Riemanns musikalische Grammatik

Zur Terminologie

«°» (links vom Symbol geschrieben), bezeichnet bei Riemann einen Mollakkord

«°a» bezeichnet den Mollakkord d – f – a und nicht etwa a – c – e!

Man muss sich also daran gewöhnen, dass im Fall eines Mollakkordes nicht der Grundton angegeben wird. Mollakkorde werden immer von der Quinte abwärts angegeben:

«+» (rechts vom Symbol geschrieben) bezeichnet einen Durakkord.

Die in moderner Schreibweise C – a – d – G notierte Akkordfolge, notiert Riemann also folgendermassen:

c+ – °e – °a – g+

  • Ein zu einem Akkord homonomer besitzt dasselbe Tongeschlecht, also Dur im Fall von Dur und Moll im Fall von Moll.
  • Entsprechend weist ein zu einem andern Akkord antinomer das gegensätzliche Geschlecht auf.

Zum Beispiel sind c+ und d+ homonome Akkorde, a+ und °e jedoch sind antinom.

  • Ein zu einem Akkord homologer steht auf einer Stufe, die in Richtung der für die Akkordkonstruktion geltenden Tonreihe steht.

Ist ein Akkord einer bestimmten Stufe also auf einen Durakkord bezogen, so wird die Stufe nach oben abgezählt, auf einen Mollakkord bezogen werden die Stufen getreu der Mollkonzeption Riemanns nach unten abgezählt.

  • Das Gegenteil von homolog ist antilog.

Der homologe Quintklang zu c+ ist zum Beispiel g+, der homologe Quintklang zu °a ist °d.

Die beiden Begriffepaare –nom und -log lassen sich kombinieren. Der zu c+ homologe und antinome Quartklang ist °f, der zu °e homonome und homologe Terzklang ist °c, der zu f+ antiloge und antinome Sextklang ist °a und so weiter.

Das Wörterbuch der Riemannschen Grammatik besteht also aus den Dur- und Molldreiklängen:

Klänge = {c+, d+, e+, f+, g+, a+, h+, °c, °d, °e, °f, °g, °a, °h}

Riemann erweitert das Wörterbuch mit allen chromatischen Varianten und Septimenklängen (für Dominantakkorde). Wir wollen uns hier aber auf eine reduzierte Variante beschränken; es geht ja auch nur darum, das Prinzip klarzumachen.

Die Grammatik

Aus den Grundelementen lassen sich nun mit mehr oder weniger klar definierten Regeln komplexere Gebilde zusammenstellen. Die einfachsten davon nennt Riemann Thesen. 

Eine Auswahl an Regeln zur Konstruktion von einseitigen Thesen ist:

  • Eine These ist ein Klang, gefolgt vom homologen homonomen Quintklang, gefolgt vom Klang.

Beispiele: in Dur: c+ – g+ – c+; in Moll: °e – °a – °e

  • Eine These ist ein Klang, gefolgt vom homologen homonomen Terzklang, gefolgt vom Klang.

Beispiele: in Dur: c+ – e+ – c+; in Moll: °e – °c – °e

Ganz analog werden Regeln für Sextenklänge, sowie antiloge homonome, antinome antiloge und alle weiteren Varianten definiert. Neben einseitigen Thesen können auch zweiseitige Thesen mit Regeln konstruiert werden. Im Gegensatz zu den einfachen einseitigen kombinieren sie drei verschiedene Klänge:

  • «Vollständige Kadenz»: Eine These ist ein Klang, gefolgt vom antilogen homonomen Quintklang, gefolgt vom homologen homonomen Quintklang, gefolgt vom Klang.

Beispiele: in Dur: c+ – f+ – g+ – c+; in Moll: °e – °h – °a – °e

Die vollständige Kadenz in Moll ist in der riemannschen Definition, wie bereits erwähnt, eine Kopfgeburt und auch nie über die theoretische Formulierung hinausgekommen. Um fair zu bleiben, muss man aber sagen, dass dies der Grammatik keinen Abbruch tut. Diese liesse sich nämlich genau gleich angeben, wenn man Moll als dem Dur parallele Tonart mit dem homologen homonomen Sextklang als Grundklang definieren und die Idee der Untertonreihe aufgeben würde. Wer sich ein bisschen in die Riemann-Grammatik einfühlen möchte, kann dies ja übungshalber durchführen. Viel Vergnügen.

Den Grundklang bezeichnet Riemann auch als Tonika, den homologen homonomen Quartklang als Sub- oder Unterdominante, den homologen homonomen Quintklang als Dominante.

Um die ganze Sache noch ein bisschen komplexer zu machen, bestimmt er weitere Typen von Thesen: Solche, die nicht auf der Tonika enden, heissen offen, solche, die auf der Tonika abschliessen, heissen geschlossen. Thesen, die auf der Tonika beginnen, heissen direkte Thesen, solche, die auf einem anderen Klang beginnen, nennt Riemann mittelbare Thesen.

Analog zur Regel der vollständigen Kadenz lassen sich Regeln für offene, geschlossene, mitttelbare, direkte und alle Kombinationen von zweiseitigen Thesen formulieren. Zum Beispiel:

g+ – c+ – f+ – c+ ist eine mittelbare, geschlossene These, ebenso

°d – °a – °e – °a

Um das System zu vervollständigen, werden schliesslich Thesenverkettungen eingeführt. Im Grossen und Ganzen handelt es sich dabei um eine Modulationslehre, respektive einen Tonartenplan für grössere kompositorische Strukturen, in denen sich die Kleinstrukturen in einer Art Selbstähnlichkeit wieder spiegeln können. Eine Thesenverkettung ist zum Beispiel:

Eine C-Dur-These, gefolgt von einer G-Dur-These, gefolgt von einer C-Dur-These.

Eine weitere Möglichkeit in Anlehnung an dreiseitige Thesen:

C-Dur – F-Dur – G-Dur – C-Dur.

Riemanns Grammatik und vergleichbare Systeme der Harmonielehre passen ihr Regelsystem so ein, dass der Ausgangspunkt in der Regel entweder eine zu harmonisierende Melodie oder ein auszusetzender Bass ist. Die klassische Kombination aus Harmonielehre und Stimmführungsregeln nimmt als Ausgangspunkt eine Akkordfolge. In diesem Fall sind die Grundelemente alle möglichen Arten, die Töne im Drei- oder Vierklang zu verteilen. Dies können weite oder enge Anordnungen, unterschiedliche Arten der Verdoppelung oder Weglassung von Tönen, aber auch Verteilung von Grundton, Terz, Quint und Septime auf die einzelnen Stimmen sein.

Die Regeln lauten in diesem Fall zum Beispiel:

Zwei Klänge dürfen nicht verkettet werden, wenn sich zwischen zwei ihrer Stimmen Quint- oder Oktavparallelen ergeben.

Viele der riemannschen Ideen sind in der Musikpraxis und –ausbildung heute noch lebendig, die Stufen- und Funktionsharmonik, das Denken in Kadenzen und Achttaktphrasen. Nicht durchgesetzt hat sich hingegen seine hegelsche Terminologie und das Aufdröseln von Musik in Thesen.