Universalien und Definitionen sind zwei eng zusammengehörige Themen. Universalien sind Eigenschaften, die allen Elementen einer in Frage stehenden Menge zukommen. Sie entsprechen intuitiv dem, was in der mittelalterlichen Philosophie als notwendige Bedingungen bezeichnet wurden, das heisst als solche, ohne die ein Ding nicht gedacht werden kann. Für eine Kuh ist es zum Beispiel eine notwendige Bedingung, zur Klasse der Säugetiere zu gehören. Weiss man von einem Tier, dass es kein Säugetier ist, so kann man auch mit Sicherheit sagen, dass es keine Kuh sein kann. Weil notwendige Bedingungen so eng mit dem zusammenhängen, was man umgangssprachlich das «Wesen» eines Dinges bezeichnet, spielen sie auch ein wichtige Rolle bei der Definition eines Dinges. Notwendige Bedingungen reichen allerdings nicht aus, um ein Ding eindeutig festzumachen (es gibt auch andere Säugetiere als Kühe, zum Beispiel Wale).
Obwohl es unter den Philosophen heute verpönt ist, kann man sagen, dass Universalien (wie notwendige Bedingungen) etwas sind, das einem Ding wesenhaft zukommt. Dass Groucho Marx zwei Beine hatte, kam ihm als Menschen etwa wesenhaft zu, sein Schnauz jedoch war bloss ein verzichtbares Accessoire (er selber würde es vermutlich genau umgekehrt sehen). Tatsächlich wird die Sache etwas komplizierter, wenn man statt Groucho in Fleisch und Blut das Groucho-Marx-Klischee betrachtet. Zu diesem gehört der Schnauz sicherlich «wesenhaft» dazu.
Im Gegensatz zu notwendigen Bedingungen charakterisieren hinreichende Bedingungen eine Sache definitiv. Hinreichend dafür, dass ein Tier eine Kuh ist, ist etwa die Tatsache, dass das Tier ein Kuhkalb zur Welt gebracht hat. Alle Kühe, die ein Kuhkalb zur Welt gebracht haben, sind definitiv Kühe. Eine hinreichende Bedingung reicht aber nicht aus, um alle Dinge einer Klasse zu erfassen. Es gibt auch Kühe, die kein Kalb zur Welt gebracht haben und auch nie eines zur Welt bringen werden, vielleicht aus Mangel an Gelegenheit oder aus Unfruchtbarkeit und weil ihnen der Stier auf der Weide unsympathisch ist.
Mit andern Worten: Universalien – verstanden als notwendige Bedingungen – reichen zwar nicht aus, um Musik befriedigend zu charakterisieren, wenn wir sie aber nicht vollständig aufdröseln, können wir nicht einmal eine befriedigende Minimal-Definition von «Musik» vorlegen.
Es ist erstaunlich, dass bis heute keine solche Minimal-Definition für den Ausdruck «Musik» vorgelegt worden ist. Angesichts der Tatsache, dass die Literatur über Musik ganze Bibliotheken füllt, ist es sogar überaus erstaunlich. Man könnte es mit Sokrates halten und fragen: Wissen wir überhaupt, wovon wir sprechen?
Das ist keineswegs eine banale Feststellung. Denn sieht man ein bisschen genauer hin, so stellt man fest, dass tatsächlich eine schon fast skandalös zu nennende Uneinigkeit darüber herrscht, was denn nun eigentlich Musik ist und was nicht. Das Thema ist emotional aufgeladen. Wem die Musik nicht gefällt, welche andere hören (und der wie Kant gezwungen ist, sie mitzuhören), tituliert diese nicht als schlechte Musik, sondern spricht ihr überhaupt ab, Musik zu sein. Rockmusik galt den Eltern der Langhaarigen in den Sechzigerjahren bestenfalls als «organisierter Lärm», die Geistlichen der Renaissance sahen in den Dreitakttänzen bloss das Wirken des Teufels, von Charakterisierungen früher Formen des Jazzes durch die weissen Herren oder chinesischer Oper durch europäische Reisende (auch heute noch) ganz zu schweigen.
Ein Weg, eine Definition zu erhalten, die von aller Ideologie und allen Vorurteilen frei ist, wäre die naturwissenschaftliche Methode der reinen Beobachtung. Als empirisches Ausgangsmaterial wäre dabei alles in Betracht zu ziehen, was in irgendeiner Kultur, irgendeiner Epoche und zu irgendeiner Zeit als Musik Bedeutung erlangt hat, als solche konsumiert wurde oder als solche eine ästhetische Diskussion provozierte. Die Definition könnte lauten:
Musik ist alles, was zu irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort als Musik angesehen wurde.
Man könnte Einschränkungen machen wie «ernsthaft als Musik angesehen» oder «von anerkannten Autoritäten» und so weiter. Dies würde das Unternehmen allerdings komplizieren, weil es sehr schwierig wäre, zu bestimmen, wer denn nun zum Beispiel «anerkannte Autorität» ist, ganz abgesehen davon, dass sich diese Einschätzung über die Jahre oder Jahrhunderte ändert.
Mit einer derartigen, auf deskriptiven Methoden beruhenden Annäherung stösst man allerdings sehr schnell an Grenzen, denn es kann – den in europäischer Tradition stehenden Avantgardisten zum Dank – sofort nachgewiesen werden, dass daraus bloss eine banale Leerformel resultiert: Alles ist Musik. Von hochorganisierten akustischen Strukturen über melodienselige Populärgesänge, über teilweise weitergestaltete zufällige Geräusche und den Lärm der Strasse bis hin zur Stille in dem berühmt-berüchtigten Stück des amerikanischen Avantgardisten John Cage: «4’33’’» – einer bloss aus einer Generalpause mit einer Dauer von vier Minuten und dreiunddreissig Sekunden bestehenden Komposition, die also solche sogar in Form einer traditionellen Partitur käuflich erworben werden kann.
Man kann «4’33’’» relativ leicht als Gag klassieren. Allerdings kommt man dabei mit der gewählten Methodik in Konflikt. Die Komposition wurde nämlich von ernsthaften Musiktheoretikern und der Kunstwelt im allgemeinen weit mehr diskutiert und analysiert als manches Stück Musik, das jedermann unzweifelhaft als Instanz für den Begriff Musik akzeptieren würde.
Wir könnten also auch «4’33’» als Musik gelten lassen und uns auf die etwas weniger allgemeine Formulierung zurückziehen, dass Musik alles ist, was von irgend jemandem in den Rang von Musik erhoben wird – analog zur willkürlichen Ernennung eines Pissoirs zum Kunstobjekt durch den französischen Dadaisten Marcel Duchamp. Eine derartige Definition von Musik könnte durchaus sinnvoll sein. Etwa im Rahmen eines grossen Projektes zur Erfoschung der Erkenntnismöglichkeiten, die uns unser Gehörsinn ermöglichen kann.
Kurz gefasst würde eine solche Definition folgendermassen lauten:
Musik sind alle Experimente, die zur globalen Erforschung der Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Gehörsinns ausgeheckt werden.
Tatsächlich ist dies bewusst oder unbewusst die Haltung vieler europäisch geprägter Avantgardisten des 20. Jahrhunderts. Aus ihr lassen sich auch Verdikte erklären wie jenes des deutschen Philosophen und Alban-Berg-Schülers Theodor W. Adorno, der nur die «avanciertesten» kompositorischen Mittel als für eine jeweilige Gegenwart gelten lassen wollte. Eine solche Definition impliziert nämlich so etwas wie einen Fortschritt der Musik und ein Aufbauen auf den «Forschungsergebnissen» der Väter.
Die zeitgenössischen Avantgardisten können in diesem Licht betrachtet als die Grundlagenforscher der Musik bezeichnet werden, die, ähnlich wie die Elementarteilchenphysiker in ihren milliardenteuren Labors den innersten Prinzipien der akustischen Welt auf den Grund gehen und dabei mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, wie ihre Freunde in den Naturwissenschaften: Sie können sich dem «gemeinen Volk» nicht mehr verständlich machen, und ihre Forschungen erschliessen sich erst nach langjährigem geduldigem Studium der theoretischen Voraussetzungen. Sogar die Nebenprodukte gleichen sich: Das Ircam in Paris, eine der Hochburgen der «musikalischen Grundlagenforschung», trug auch schon mal dazu bei, Simulationen von Strömungsverhältnissen in der Aviatik zu verbessern. Auch im Windkanal arbeitet man schliesslich mit Wellenphänomenen.
Diese Art der Definition hat trotz ihrer Schlagseite in Richtung Trivialität einiges für sich. Sie wird selbst den entferntesten Experimenten von Klangtüftlern und Bastlern gerecht und erklärt überdies, weshalb wir oft gehörte Musik als abgegriffen oder «falsch» (Adorno) empfinden[1]. Dennoch dürften viele Musikliebhaber davon irritiert sein. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass diese Charakterisierung den Kern nicht trifft, den sie als «Wesen» der Musik empfinden.
Vor allem von Musikern und musikalisch Gebildeten finden sich in allen Weltregionen und -epochen Zeugnisse einer Umschreibung von Musik, die in eine ganz andere – möglicherweise gegenteilige – Richtung als diejenige eines Forschungsprojektes zur Vermehrung der Kenntnisse über die Wirklichkeit weisen: Sie alle deuten hin auf die Macht der Musik, im Menschen einen «ekstatischen Zustand» zu erzeugen, ihm «neue Welten» zu erschliessen oder ihn zu «entrücken». Statt einer Klärung des Hier und Jetzt scheint Musik so gesehen eher das andere, eine Gegenwelt, eine Phantasiewelt, zu evozieren. Diejenige Musik, die eben solches nicht ermöglicht oder sogar aktiv verhindert, gilt dann eben als Un-Musik.
Nicht mehr zu umgehen sind die Fragen nach einer Definition von Musik in den letzten Jahrzehnten vor allem für die Ethnomusikologie gewesen. Sie bewegt sich innerhalb einer ungeheuren Spannweite musikalischer Äusserungen – von den Obertongesängen der Mandschurei über die virtuosen Geigenklänge der ungarischen Puszta bis hin zu den als Eigentum betrachteten und damit auch verkauf- und vererbbaren Gesängen der amerikanischen Indianer. Es erstaunt deshalb nicht, dass ethnomusikologische Fachpublikationen sich nach längerer Abstinenz und Berührungsangst dem Thema «Universalien in der Musik» in Sondernummern gewidmet haben: «Ethnomusicology»[2] im Jahr 1971 und «The World of Music»[3] 1977. In beiden Bänden ist trotz der Bereitschaft, sich darauf einzulassen, eine fundamentale Skepsis darüber spürbar, dass angesichts der Vielfalt der musikalischen Äusserungen Universalien in der Musik dingfest gemacht werden können.
Dennoch: Gestellt werden muss die Frage, schon nur, um sich der eigenen kulturellen Vorurteile bewusst zu werden. Die Missverständnisse und die Naivität im Glauben zu wissen, was Musik ist, können überdies auch im wissenschaftlichen Dialog tiefgreifende Konsequenzen haben – sie können moderne Ansätze zur Erforschung der Musik ruinieren: In einer Zeitschrift[4] zum Beispiel macht sich eine Neurologin Gedanken darüber, in welchen Regionen des menschlichen Hirns Musik verarbeitet wird. Zu Recht kritisiert sie die Voraussetzung früherer Forschungen, die ungesehen Konzepte aus der Linguistik übernehmen, um die Musikwahrnehmung zu erhellen.
Umso verblüffender ist die Definition, die sie selber gleich an den Anfang ihres Artikels stellt: «Musik ist die Kunst, wohlunterschiedene Tonhöhen in der Art sequentieller Muster harmonischer Konfigurationen zu organisieren, die unterschiedliche Dauer, Intensität und Klangfarbe haben können.» Ein Grossteil der Musik Afrikas, viele zeitgenössische Werke, überhaupt alle rein perkussiven Werke und ein grosser Teil der elektronischen Musik fällt aus dieser Charakterisierung, die dem mechanistischen Denken des 19. Jahrhunderts zu entstammen scheint.
Der Artikel ist beileibe kein Einzelfall, wissenschaftliche Abhandlungen rund um den Globus gehen eher häufiger als selten von unausgesprochenen Vorurteilen oder naiven Vorstellungen darüber aus, was man als Musik anzusehen hat und verlieren dadurch einiges an Wert, vor allem wenn sie, wie es ebenso häufig geschieht, anhand eines engen Musikbegriffes eine Theorie entwickeln und diese dann bewusst oder unbewusst verallgemeinern.
Um nicht in diese Falle zu tappen, soll hier eine mehr oder weniger systematische Zusammenstellung allgemein akzeptierter Universalien skizziert werden. Dazu muss der Blick zunächst einmal auf ein völlig anderes Gebiet geworfen werden: auf die Suche nach ausserirdischem Leben.
Kaum je einmal stellt sich die Frage danach, was Musik eigentlich ist, so allgemein wie möglich, wie in den Monaten zwischen Januar und August 1977. Das Gewicht der Frage steht natürlich in krassem Missverhältnis zu der kurzen Zeit, die bleibt, eine Antwort dafür zu finden – wenig erstaunlich, dass die Chronik dessen, was sich in diesem halben Jahr abspielt, voll ist von unfreiwilliger Komik, krassen Fehlurteilen und einer eher amüsant als ernsthaft anmutenden Lösung der musiktheoretischen Gretchenfrage.
Die menschliche Komödie mit ernsthaftem Hintergrund beginnt an einer Sitzung der American Astronomical Society und ihrer Abteilung für planetarische Wissenschaften, die im Januar 1977 auf Honolulu abgehalten wird[5]. Auf der Traktandenliste steht die Frage, was den zwei Voyager-Satelliten mitgegeben werden soll, die im Sommer starten und nach einem Besuch bei den Planeten Mars, Jupiter, Saturn und Uranus zehn Jahre später das Sonnensystem in Richtung des Sternensystems verlassen werden, welche das Sternzeichen Steinbock bildet (dorthin sind sie heute übrigens auch unterwegs, nachdem sie beinahe alle ihre Aufgaben mit Bravour gelöst haben). Da die Voyager-Reise ins weite Nichts des Weltalls führen wird, liegt es nahe, den Satelliten – wie früher bereits schon den Pionier-Gegenstücken – Materialien über das Leben auf der Erde mitzugeben, im (sehr unwahrscheinlichen) Fall, dass sie da draussen einmal irgendwelchen kleinen grünen Männchen in die Hände (oder was diese an deren Stelle besitzen) fallen sollten.
An der Sitzung macht der Astronom Frank Drake den Vorschlag, statt eines Magnetbandes – ein früherer Vorschlag – eine Langspielplatte samt einer selbsterklärenden Abspielvorrichtung beizulegen, die von den Ausserirdischen abgespielt werden könnte. Wie Carl Sagan, einer der Initianten des Projektes, herausfindet, will es der Zufall, dass 1977 der hundertste Geburtstag des Phonograph-Erfinders Thomas Edison gefeiert wird, doch die Gründe für eine Platte sind anderer Natur: Anders als ein Magnetband speichert eine solche die Informationen aufgrund einer mechanischen Gravur und könnte die sehr, sehr, sehr lange Reise ungleich besser überstehen. Ein willkommener Nebeneffekt ist die Tatsache, dass man dank einiger cleverer Überlegungen wie zum Beispiel der Wahl der Geschwindigkeit von 16⅔ Umdrehungen pro Minute für die Wiedergabe, viel Platz für akustische Botschaften schaffen könnte.
Für Carl Sagan ist sofort klar, was dies bedeutet: Man kann potentiellen ausserirdischen Empfängern Musik von der Erde überbringen.
Es stellt sich heraus, dass auf der Platte, die zudem rund 60 Grussbotschaften in Sprachen aus allen Weltgegenden (inklusive eines Wals), Geräuschen der Erde und 118 Photographien beinhalten wird, rund 90 Minuten Platz für Musik blieben. Sagan kontaktiert Robert E. Brown vom Center for World Music in Berkeley und Alan Lomax, den Leiter des Cantometrics Project der Columbia University, das zum Ziel hat, die Musik der Welt in einer riesigen Datenbank zu verzeichnen.
Am 14. Mai 1977 findet in Washington im Smithsonian Institute ein Meeting statt, das sich bis drei Uhr in der Früh hinzieht. Sagan wird da klar, dass die Musik der Welt viel zu reich ist, als dass jemand sie wirklich überblicken kann. Letztlich bleibt die Entscheidung, welche Auswahl getroffen werden muss, bei ihm. Da die Zeit drängt, wird alles mobilisiert, was irgendwie zur Wahl beitragen kann. Um elf Uhr nachts zum Beispiel klingelt man Martin Williams, den Kurator des Smithsonian für Jazz, aus dem Bett, der sich zuerst einmal die Augen reibt und fragt, ob er das richtig verstanden habe: Man schrecke ihn an einem späten Sonntagabend auf, um von ihm zu wissen, welchen Jazz man E.T. und Konsorten anempfehlen könne…
Die Diskussionen führen über die Frage, ob Vokalmusik eingeschlossen werden solle, zur Bedeutung der Musik der Apachen unter den nordamerikanischen Indianerstämmen sowie von der Frage, ob Bob Dylan und Jefferson Airplane in die Liste sollten, zu Argumenten zur richtigen Auswahl klassischer Komponisten. Man will sinnigerweise «Here Comes the Sun» der Beatles berücksichtigen und hat auch bereits die Zustimmung aller Bandmitglieder. Da aber die Urheberrechte unklar sind (gelten sie auch für Konzerte bei Ausserirdischen?), muss man die Idee schliesslich fallenlassen.
In Sachen indische Musik insistiert Brown auf einem Titel von Surshri Kesar Bai Kerkar, der erst in einem indischen Trödlerladen in Manhattan, achtlos in eine Kartonschachtel gesteckt, aufgetrieben wird. Die Bemühungen um Gerechtigkeit, was die geografische Verteilung angeht, führt zu heute beinahe unglaublich anmutenden diplomatischen Verwirrungen. Murry Sidlin, Dirigent des National Symphony Orchestra in Washington, schlägt vor, ein russisches Volkslied mit Nicolai Gedda als Interpreten in die Auswahl aufzunehmen. Gedda ist aber Skandinavier mit weissrussischen Eltern. Es ist nicht offensichtlich, dass er als authentischer Vertreter der russischen Volksmusik durchgehen kann, zudem befürchtet man, dass der Inhalt des Liedes – ein junges Mädchen wird von einem kapitalistischen Unternehmer verführt – der herrschenden kommunistischen Doktrin in Russland widersprechen könnte.
Sagan konsultiert telefonisch einen russischen Physikerkollegen und fragte diesen, ob er eine bessere Idee hätte. Die Frist für eine Antwort verstreicht jedoch, ohne dass er eine Rückmeldung erhält. Alan Lomax schlägt als Alternative ein Lied aus Georgien vor. Erst viel später hört Sagan von seinem russischen Freund. Die Anfrage hat offenbar den schweren Gang durch die Institutionen gemacht. Sogar Lenin wird zitiert, der offenbar einmal der Meinung war, dass selbst kapitalistische Aspekte des vorrevolutionären Russlands Wert seien, aufbewahrt zu werden. Die russische Nomenklatura schlägt aber eine Alternative vor, ein plattes Propagandastück mit dem Titel «Moskauer Nächte». Sagan ist dankbar, das die bürorkatischen Mühlen der Sowjetunion zu langsam gemahlt haben, und es deshalb nicht mehr in Betracht fallen kann.
Jedes ausgewählte Stück muss urheberrechtlich abgeklärt werden, weil die internationale Urheberrechtskonvention die Vervielfältigung eines Werkes «zu was für einem Zweck auch immer» grundsätzlich verbietet, was ja logischerweise auch ausserirdische Verwendungen einschliesst. Es werden sogar Tantiemen bezahlt.
Noch skurriler ist die Prozedur zum Einspielen der Grussbotschaften, die Sagan gerne von Mitgliedern der Vereinten Nationen eingeholt hätte. Das Weltraumkomitee der Vereinten Nationen will erst nach einer Zustimmung der amerikanischen Delegation mitmachen. Die amerikanische Delegation wiederum schiebt die Verantwortung auf das State Department, das wiederum erst aktiv werden will, wenn die NASA eine formelle Anfrage macht. Die durch Presseberichte aufgeschreckte NASA erklärt aber, über das Projekt sei noch kein definitiver Entscheid gefallen, womit Sagan in der bürokratischen Mausefalle sitzt.
Sagan hat sich vorgestellt, dass jeder UNO-Vertreter rasch im UNO-Studio vorbeischauen würde, um in seiner Sprache «Hallo» aufs Band zu sprechen. Als schliesslich doch noch eine Aufnahmesitzung zustandekommt, findet sich ein seltsames Grüppchen von Funktionären aus dem Weltraumkomitee zusammen, das bei weitem keinen repräsentativen Querschnitt durch die Sprachen der Welt bietet. Auch aus dem asketischen Text «Hallo» wird nichts. Die Franzosen zitieren Baudelaire, die Schweden einen zeitgenössischen schwedischen Poeten, der Australier spricht Esperanto, und der Nigerianer erklärt, wo auf der Erde sein Land zu finden ist.
Allerdings hat die UNO bereits die Presse über die Aufnahmesitzung orientiert. Die Konsequenz: Der damalige UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim nimmt eine kurze Ansprache an die Ausserirdischen auf. Da der Beitrag nun mal da ist, zerschlägt man sich die Köpfe darüber, ob der amerikanische Präsident sich wohl zurückgesetzt fühlen müsste und er einer amerikanischen Raumsonde nicht auch einen Gruss mitgeben möchte.
Jimmy Carter entscheidet sich schliesslich für eine geschriebene Message, datiert vom 16. Juni 1977. Es wird aber der Ruf laut, dass, wenn der US-Präsident sich in der Sonde verewige, dies als Folge der Gewaltentrennung auch den Parlamentariern zustehe, und so werden im letzten Moment noch zwei fotografierte Typoskripte von Namen von US-Parlamentariern der Sonde mitgegeben (vermutlich für die interstellare Boulevardpresse).
Den Rest der Geschichte lässt man Sagan am besten selber erzählen:
Die späte Ankunft des präsidialen und speziell des Kongressmaterials hatte eine Reihe organisatorischer Probleme zur Folge. Die 118 anderen Bilder waren für die Aufnahmen bei Colorado Video in Boulder, Colorado, bereits ins passende Format transkribiert worden. Vom Hersteller Honeywell selber erhielten wir dazu leihweise ein Aufnahmegerät der 5600-C-Serie. Der gesamte technische Abschluss der Bildtranskription wurde als ein öffentlicher Dienst von Mitarbeitern des National Astronomy and Ionosphere Center (NAIC) in Cornwell überwacht. Um die beiden Dokumente aus Washington hinzufügen zu können, musste das Aufnahmegerät erneut ausgeliehen und innerhalb eines sehr engen Zeitrahmens nach Boulder geflogen werden, in der Hoffnung, bei Colorado Video auf Verständnis für die Sonderwünsche zu stossen.
Im Washingtoner NASA-Zentrum traf ich Valentin Boriakoff vom NAIC. Dort übergab ich ihm die Botschaft des Präsidenten und die Liste der Kongressmitglieder, um sie auf 35-Millimeter-Diafilm zu übertragen. Dies konnte nur in einem kommerziellen Studio in einem Aussenquartier von Washington geschehen. Das Weisse Haus bestand darauf, den Inhalt der präsidialen Message selber zu veröffentlichen, und Boriakoff war deshalb überall persönlich anwesend, um sicher zu gehen, dass keine unerlaubten Kopien gezogen wurden. Dann flog er nach Denver. Unterdessen flog Dan Mittler vom NAIC von Ithaca, New York, nach Newark, New Jersey, um dort das Honeywellgerät abzuholen und es nach Denver zu fliegen. Die Zeit war so kurz bemessen und das Gerät so kostbar, dass man es sich nicht leisten konnte, dieses im Gepäckraum transportieren zu lassen. Wir wollten deshalb einen Sitz dafür reservieren. Es stellte sich allerdings heraus, dass Fluglinien mit der Idee eines Sitzes für ein Stück Ausrüstung nur schlecht umgehen konnten. Die Lösung bestand darin, einen Sitz für eine Person mit dem Namen Mr. Equipment zu reservieren, und da Mr. Equipment weniger als zehn Jahre zählte, musste er auch nur den halben Preis bezahlen. Ad astra per bureaucracia.[6]
Heute ist Voyager 1 das am weitesten von der Erde entfernte Objekt, das je von Menschenhand geschaffen worden ist. Noch immer wird damit kommuniziert, auch wenn eine Botschaft von der Erde an die Sonde mittlerweile etwa elfeinhalb Stunden braucht, und eine Antenne mit dem Durchmesser von 70 Metern benötigt wird, um die nach wie vor von der Sonde übermittelten wissenschaftlichen Daten zu empfangen.
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[1] Theodor W. Adorno, «Philosophie der neuen Musik», Los Angeles 1947, Kapitel 1, «Schönberg und der Fortschritt»
[2] Ethnomusicology 15, Nr.3 (1971)
[3] The World of Music 19, Nr. 1/2 (1977)
[4] Literaturangabe
[5] Die Darstellung folgt dem Buch «Murmurs of Earth» von Carl Sagan, Random House, New York 1978
[6] a.a.O., Seite 32