Moderne Variante in der Jazzharmonik

Riemanns musikalische Grammatik hat als Konzept Schule gemacht. Eine moderne Abwandlung findet sich zum Beispiel in der Harmonik, die an Jazzschulen gelehrt wird. Sie ist von etwas anderer Gestalt, weil sie dem improvisierenden Musiker angemessene Werkzeuge in die Hand geben muss. Die polyphone Denkweise mit dem Akzent auf kontrapunktischen Strukturen entfällt, da es ja ein Ding der Unmöglichkeit ist, komplexe kontrapunktische Abläufe spontan in Echtzeit zu erzeugen. Die Musiker müssten dazu zum einen wissen, was ihre Mitmusiker im Sinn haben, und zum andern ein komplexes Regelsystem flüssig interpretieren. Das wäre zuviel des Guten.

Obwohl der Kontrapunkt im Jazz durchaus eine Rolle spielt – vor allem in niedergeschriebenen Arrangements für grössere Ensembles wie Big Bands – und er auch eigenständige kontrapunktische Regelwerke ausgebildet hat, liegt der Akzent doch eindeutig auf der Harmonik. Das Fehlen der Polyphonie wird im improvisierten Solo mit der harmonischen Klangfarbe kompensiert. Die harmonischen Regeln des Jazz legen deshalb fest, wie Harmonieschemata variiert werden können. Sie besagen zum Beispiel, durch welche andere Akkorde ein Akkord ersetzt werden kann, ohne die Grundstruktur eines Stückes zu verändern. Beliebt sind dabei vor allem Verkomplizierungen.

Wie einfache Harmonieschemata durch kompliziertere ersetzt werden, zeigt zum Beispiel die Jazzharmonielehre von David Liebman[1]. Die liebmannsche Regel der Tritonus-Substitution besagt etwa, dass ein Akkord durch den um einen Tritonus entfernten ersetzt werden kann, eine vor allem im Bebop beliebte Technik. Das heisst

vier Schläge Dm7 – vier Schläge G7 – acht Schläge C

kann ersetzt werden durch

vier Schläge Abm7 – vier Schläge Db7 – acht Schläge C

Von der Regel gibts Varianten, etwa eine Mischform, bei der beide Varianten ins Spiel kommen:

zwei Schläge Abm7 – zwei Schläge Dm7 – zwei Schläge Db7 – zwei Schläge G7 – acht Schläge C

Hinzukommen können noch Kniffe, wie ein chromatisches Umspielen oder Anzielen:

zwei Schläge Abm7 – zwei Schläge A7 – zwei Schläge Db7 – zwei Schläge B7 – acht Schläge C

Mit Hilfe der Ersetzungsregeln lassen sich auch Jazzstile aussagekräftig charakterisieren. Die obige Harmoniefolge hat der Saxophonist John Coltrane zum Beispiel vorzugsweise so ersetzt:

zwei Schläge Dm7 – zwei Schläge Eb7 – zwei Schläge Ab – zwei Schläge B7 – zwei Schläge E – zwei Schläge G7 – vier Schläge C

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[1] David Liebman, A Chromatic Approach To Jazz Harmony and Melody, Advance Music, o. O., printed in Germany 1991