Ptolemäus und Nikomachus am Tor zum Mittelalter

Von der Antike ins Mittelalter gelangen die Ideen zu Harmonik und Sphärenklängen via die Vermittlung von Claudius Ptolemäus, der etwa zur gleichen Zeit tätig ist, in der die Johannes-Apokalypse entsteht. In medievalen Darstellungen wird Ptolemäus ab und zu mit einer Krone auf dem Kopf dargestellt, weil er mit den Mitgliedern einer hellenistisch-ägyptischen Herrscherdynastie verwechselt wird. Mit diesen hat er allerdings nichts zu tun. Er wirkte um 160 nach Christus in Alexandria als Astronom, Mathematiker und Geograph. Sein astronomisch-mathematisches Hauptwerk ist die «Mathematike Syntaxis», aus der später eine «grosse Syntaxis» wird, welche die arabischen Übersetzer schliesslich sogar zu einer «grössten Syntaxis» machen. Der entsprechende Ausdruck ist «megiste». Mit dem typisch arabischen «Al» hat sich für die «Syntaxis» deshalb der Name «Almagest» eingebürgert. Der Almagest bleibt fast 1500 Jahre lang das Referenzwerk für das geozentrische Weltbild.

Der offiziellen Version zufolge ist das Werk die Leistung von Ptolemäus selber. Schon zu Beginn des 19. Jahrunderts weist der französische Astronom Jean Delambre jedoch nach, dass viele Daten entweder frei erfunden oder bei Hipparchos von Nizäa (2. Jahrhundert v. Chr.) abgekupfert worden sind. Der dreiste Schwindel wird von van der Waerden in seinem Buch «Die Astronomie der Griechen» bestätigt.

Ptolemäus hat im übrigen auch die damals bekannte Welt in einem gewaltigen Kartenwerk erfasst, in der «Einführung in die Geographie» in acht Bänden. Generell liegt das Verdienst von Ptolemäus in einer Konsolidierung der wissenschaftlichen Daten seiner Zeit. Dies hat er so gründlich gemacht, dass einige der Datenlieferanten schlicht vergessen gegangen sind.

Der Datenklau betrifft übrigens nicht seine Harmonielehre, in der er akribisch die Systeme von Pythagoras, respektive dessen Chronisten Archytas, Platon, Aristoxenos und Eratosthenes expliziert und mit eigenen – minderwertigen – Interpretationen des Tonsystems ergänzt. Allerdings hat die Harmonik nicht die Beachtung gefunden, die dem Almagest und der Geographie zugekommen ist. Es existiert eine «Neuauflage» aus dem 13. Jahrhundert, die der Historiker Gregoras vorgenommen hat, ansonsten fristet das Werk eher ein Randdasein. Die Authentizität der Skizzen zum dritten Buch, in denen die Beziehungen von Intervallen, Seele und Himmelskörpern dargelegt werden, wird überdies immer mal wieder in Frage gestellt, weil sie weitaus weniger konzis und fragmentarischer sind als der Rest. Zudem fehlt ihnen der polemische Biss, durch den sich andere Partien des Werkes auszeichnen.

Der Architekturplan der Harmonielehre sieht folgendermassen aus:

  • Im Buch I werden Harmonien und Klänge definiert. Ausgehend von der Unterscheidung in diskrete und kontinuierliche Klänge, entwirft Ptolemäus eine Theorie der Beziehung zwischen Intervallen und mathematischen Verhältnissen. Das Ende von Buch I ist eine Diskussion des Tetrachordes und seiner unterschiedlichen Konstruktion bei Archytas, Aristoxenos und den Zeitgenossen von Ptolemäus.
  • Das Buch II beschäftigt sich mit Tonleitern und ihren Abwandlungen.
  • Buch III schliesslich entwirft die Theorie der Sphärenharmonie, so wie sie die nächsten 1500 Jahre gültig bleiben sollte. Darin angelegt ist bereits die Ordnung des mittelalterlichen Quadriviums aus Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, die aber erst später durch Boetius institutionalisiert wird.

Einen kräftigen Teil zur Legendenbildung rund um die Pythagoräer hat der syrische Grieche Nikomachus von Gerasa beigetragen. Er verfasste rund um das Jahr 100, etwa in der Zeit, in der auch die Johannes-Apokalypse entstand, neben einem Standardwerk zur Arithmetik eine Schrift, die den Namen «Handbuch der Harmonik» trägt und eigentlich nichts anderes als flüchtig hingeschriebene Notizen zu einer Einführung in die Harmonik für eine Freundin darstellen.

Quellen zitiert Nikomachus, der sich zur Zeit der Niederschrift gerade auf Reisen befindet, aus dem Gedächtnis – und dies nicht zum Vorteil des Ganzen. Viele Details in dem Werk sind ungenau, einiges ist so offensichtlich falsch, dass man sich fragen muss, weshalb es über Jahrhunderte hinweg gedankenlos kolportiert worden ist.

Dies gilt insbesondere für die Geschichte, nach der Pythagoras die Intervallverhältnisse entdeckt, während er an einer Schmiede vorbeigeht. Nikomachus ist der erste griechische Autor, der die Legende zu einem Ganzen schmiedet. In der Folge wird sie über Iamblichus, Boetius und Isidor von Sevilla bis in die Neuzeit weitergetragen. Ein Denkmal gesetzt hat der Geschichte Händel in der 5. Cembalosuite. Der Satz «Aria con Variazioni» trägt in Anlehnung an die Legende den Titel «Der harmonische Schmied» (übrigens ist auch die spanische Martinete, die Urform des Flamenco, in den Schmieden entstanden – wie die Schmiede überhaupt zu einem der archaischen Topoi der Tiefenpsychologie geworden ist).

Die Geschichte lautet folgendermassen: Pythagoras war ganz in Gedanken versunken – er suchte nach einem Instrument, das die Gesetze der Akustik hätte messbar machen können –, als er an einer Schmiede vorbeikam und die Hämmer hörte, die auf den Amboss schlugen. Die Töne der Hämmer schienen harmonisch zueinander zu passen – mit Ausnahme eines einzigen, der einen Misston beisteuerte. Pythagoras erkannte die Intervalle der Oktave, der Quinte und der Quarte und stellte fest, dass das Intervall zwischen Quarte und Quinte eine Dissonanz erzeugte. Er betrat die Schmiede und fand mit mehreren Experimenten heraus, dass die Tonhöhen der Hämmer abhängig von ihrem Gewicht waren, nicht aber von der Stärke des Schlages, der Form oder der Formveränderungen des behauenen Eisens. Pythagoras eilte nach Hause und versuchte, die Einsicht anhand von Saiten nachzuvollziehen. Er hängte vier gleichbeschaffene Saiten gleicher Länge auf und daran Gewichte, die denjenigen der Hämmer in der Schmiede entsprachen. Dann stellte er fest, dass die Intervallverhältnisse, welche die angezupften Saiten erzeugten, die gleichen waren wie die in der Schmiede gehörten. Insbesondere soll er bemerkt haben, dass ein Gewicht und ein doppelt so schweres ein Intervall einer Oktave produzierten. Standen die Gewichte im Verhältnis 2:3, so erklang eine Quinte, standen sie im Verhältnis 3:4 eine Quarte.

Das Dumme an der Legende ist, dass beinahe alle physikalischen Behauptungen falsch sind. Schlägt man mit Hämmern verschiedener Grösse auf einen Amboss, so erzeugt man jedesmal denselben Ton, denjenigen des Amboss nämlich, der wie eine Glocke reagiert. Der zweite offensichtliche Fehler wurde erst im 19. Jahrhundert entdeckt, und zwar von dem französischen Akustiker Théodore Martin. Er wies darauf hin, dass das Verhältnis von Zugkraft und Tonhöhe der Saite physikalisch gesehen anders lauten muss: erst ein viermal so grosses wie das Ausgangsgewicht erzeugt eine Oktave. Die entsprechenden Verhältnisse für eine Quinte und eine Quarte sind 9:4 und 16:9. Diese Gesetze wurden im 17. Jahrhundert allerdings schon von Marin Mersenne gefunden. Zur Ehrenrettung der Alten ist zu sagen, dass Ptolemäus (ca. 100 –180 n. Chr.) nachgesagt wird, er habe die Experimente nachzuvollziehen versucht und sei dabei auf Ungereimtheiten gestossen.