Hanslicks hat alle Bemühungen, in der Musik eine Sprache der Gefühle zu sehen, skeptisch zerpflückt. Das hat spätere Generationen aber nicht daran gehindert, ein entsprechendes Projekt trotzdem in Angriff zu nehmen.
Der bekannteste Versuch stammt von dem 1976 verstorbenen englischen Musikologen Deryck Cooke, der sich sinnigerweise wie Hanslick auch als Musikkritiker einen Namen gemacht hat. Zudem stammt die Aufführungspartitur der 10. Sinfonie Gustav Mahlers aus seiner Hand. Sein Klassiker nennt sich unmissverständlich «The Language of Music»[1] (1959), und das Titelblatt spielt denn auch schon mit dem Thema, indem es neben Titel, Autor und Verlag in musikalischer Form ein Motto proklamiert
Das Motto von Cookes «The Language of Music»
Die Idee ist amüsant. Sie nimmt das Scheitern der Theorie einer musikalischen Sprache aber ironischerweise voraus. Man ist nämlich nicht in der Lage, die Pointe zu verstehen. Tatsächlich handelt es sich bei dem Zitätchen um den Beginn der Rienzi-Ouvertüre von Richard Wagner, die Cooke im folgenden Text des Buches als «wunderschön, geheimnisvoll und packend» beschreibt. Der Klang wecke das Gefühl von Ehrfurcht und Neugier, meint er, und evoziere eine unterschwellige Erwartung der heroischen Dinge, die da kommen werden.
Der kleine Schönheitsfehler liegt in der Tatsache, dass die Pointe erst erklärt werden muss und der Witz damit eben keiner mehr ist. Die unfreiwillige und tatsächlich witzige Ironie liegt denn in Tat und Wahrheit im kaschierten Anspruch, ein heroisches Buch geschrieben zu haben, wo doch tatsächlich bloss ein bereits gescheitertes Unternehmen in Angriff genommen wird.
Cooke behauptet in seinem Buch genau das, was Hanslick so vehement abstreitet: Dass Musik sehr wohl eine Sprache der Gefühle ist und dass die syntaktischen Bausteine, ihre Rhythmen, Klänge, Intervalle, über alle Zeiten und Stile hinweg gültige emotionale Bedeutungen besitzen, gewissermassen solche, die aus biologischen Gegebenheiten zu erklären sind.
Sein System baut Cooke aus einigen Grundelementen auf: Auf der tiefsten Stufe stehen die Intervallspannungen, die bis zu einem gewissen Grad feste Rollen in der emotionalen Kommunikation haben sollen. Beeinflusst werden diese durch Rahmenbedingungen, die von den Parametern Lautstärke, Tempo, Tonhöhe, Klangfarbe und Textur gesetzt werden. Aus den Basiselementen können als die eigentlichen Ausdrücke der musikalischen Sprache kurze Floskeln abgeleitet werden, etwa ein arpeggierter Dreiklang oder Tonleiterfragmente, denen ebenfalls mehr oder weniger stabile emotionale Bedeutungen zukommen – und zwar unabhängig von der rhythmischen Gestalt. Die rhythmische Ausprägung erhält die Floskel in einer Komposition erst durch die kreative Fantasie, die sie in eine bestimmte Aussage einer bestimmten Komposition formt.[2]
Cooke fragt sich, wie es möglich ist, dass ein umfangreiches Musikstück als expressives Ganzes wirken kann. Den Prozess stellt er sich – in der angelsächsischen Tradition von John Locke, David Hume und dem Assoziationismus – ungefähr folgendermassen vor[3]:
- Die Erinnerung an zahllose Verwendungen der Intervallspannungen bringt es mit sich, dass diese über Ideenassoziation zu Gruppen verbunden werden; diese Gruppen wiederum werden mit konkreten Lebens- und Sinneserfahrungen verknüpft.
- Die Gruppen enthalten Untergruppen, die eine spezifische Verwendung einer Intervallspannung, das heisst eines der Grundelemente, umfassen.
- Derselbe Prozess trifft auch auf die Tonarten zu, wodurch die Verbindungen von Tonarten mit bestimmten Ausdrucksqualitäten entstehen (zum Beispiel c-Moll als «tragische» Tonart).
Aufgrund dieser Konzeption definiert Cooke Inspiration als ein spontanes Zusammenfassen einzelner Grundelemente zu einer bestimmten Form.
Cooke skizziert auch ein Beispiel dafür, wie dieser Prozess konkret abläuft: Man denke sich einen Komponisten, der eine Hamlet-Oper schreiben muss. Die Eröffnungsszene des Shakespeare-Stücks wird beherrscht von einer nächtlichen Stimmung von Kälte, Unruhe und bösen Vorahnungen. Der Komponist lässt vor seinem geistigen Ohr also alle Erinnerungen an Grundelemente Revue passieren, die solche Stimmungen hervorrufen. Die Grundelemente etwa die «angstgeladene kleine Sexte» oder die «tragische kleine Terz» werden in kurzen Floskeln imaginiert, zum Beispiel der Tonfolge Quinte – Grundton – Kleine Terz mit ihren «heroischen» Anklängen, die dann eine rhythmische Ausprägung erhalten und damit zu einem Grundmotiv für die Szene werden.
Um Cookes Argumentation nachvollziehen zu können lohnt es, sich die einzelnen Schritte einer möglichen musikalischen Kommunikation genau vor Augen zu führen. Da verpackt der Komponist eine emotionale Mitteilung in ein Stück Musik. Der Hörer hört die Musik und destilliert daraus die Botschaft. Es bleiben dabei allerdings noch einige Fragen offen, vor allem die, ob der Komponist etwas über seine eigenen Gefühle aussagt und ob dem Hörer bloss ein unbestimmter emotionaler Inhalt dargeboten wird (wie dies Hanslick behauptet), oder ob es sich dabei um die konkrete emotionale Befindlichkeit handelt, die der Komponist kommunizieren wollte. Ein entsprechendes Schema könnte etwa so aussehen:
Komponist | Musik | Hörer | |
schwache Theorie (Hanslick) | formt musikalische Strukturen | ist expressiv | empfindet Musik als expressiv |
starke Theorie (Cooke) | hat eine bestimmte Emotion | bringt die bestimmte Emotion zum Ausdruck | hört aus der Komposition die bestimmte Emotion heraus |
Die schwache Theorie behauptet lediglich, dass Musik expressiv ist und dass sie den Hörer emotional berührt. Der Komponist formt nach der schwachen Theorie, als deren Vertreter Hanslick angesehen werden könnte, bloss abstrakte Strukturen. Zwischen dem, was der Hörer in der Musik hört, und dem, was der Komponist an Gefühlsausdruck bewusst oder unbewusst hineingelegt hat, gibt es keine konkret bestimmbare Beziehung.
Nach der starken Theorie, wie sie Cooke vertritt, benutzt der Komponist die Musik als Ausdrucksmittel einer konkreten Befindlichkeit, die vom Hörer auch so verstanden werden kann, wie sie vom Komponisten gemeint ist. Cooke stellt sich sogar auf den radikalen – und dadurch auch gefährlichen – Standpunkt, dass Hörer, die etwas anderes in der Musik hören, als was darin verpackt wurde, einem Irrtum verfallen, sei es aus mangelnder Sensibilität, sei es aus fehlender Übung. Weshalb diese Position sehr gefährlich ist, soll etwas weiter unten genauer begründet werden; zunächst wollen wir uns mit den Argumenten für die einzelnen Schritte beschäftigen, die Cooke anführt.
Wenden wir uns der ersten Behauptung der starken Theorie zu. Sie besagt, dass der Komponist in der Musik konkrete eigene Gefühle zum Ausdruck bringt. Die Behauptung versucht Cooke mit einer Analyse des emotionalen Gehaltes von Beethovens 3. Sinfonie zu stützen.
Zum ersten, erklärt er, sei Beethoven von den Ideen der Französischen Revolution begeistert gewesen. Er hatte ursprünglich sogar die Absicht, das Werk Napoleon zu widmen. Aus verschiedenen Quellen wissen wir, dass Beethoven von der revolutionären Idee der Freiheit völlig durchdrungen war und dass er die Sinfonie als Ausdruck dieses starken Gefühls angelegt hat. Dies schlägt sich laut Cooke in den Themen des Werkes konkret nieder. Er exemplifiziert dies am Trauermarsch:
Eines der Gefühle, das in Beethoven durch die heroische Freiheitsidee geweckt wurde, war, wie wir wissen, eine tiefe Besorgnis über das Schicksal, das viele, und speziell viele Befreier erwartet – das des völligen Aufgeriebenwerdens. Er muss also den Zwang gefühlt haben, dieses Gefühl in seiner Sinfonie am passenden Platz zum Ausdruck zu bringen: Der langsame Satz sollte ein Trauermarsch werden. Die Gesetze der Sprache der Tonalität verlangten nun für einen Trauermarsch ein langsames Marschtempo in Moll (c-Moll war die «tragische» Tonart von Beethovens grossem Vorgänger Mozart) und ein trauervolles Thema. Sich vorzustellen, dass Beethoven sich alle diese Anforderungen nacheinander ins Bewusstsein gerufen habe, ist lächerlich; sie müssen sich völlig unbewusst in dem c-Moll-Thema kristallisiert haben, rund um die klassische Tragik-Formel des Molldreiklanges. Beethovens unbewusster Geist passte seine eigenen Gefühle über den Tod eines Helden in die der Zeit verpflichteten Floskeln der Musik – aber auf seine eigene persönliche Weise.[4]
Bereits hören wir Hanslick rufen: «Die Trauer ja, aber nicht die Trauer über den Tod eines Helden!», und selbstverständlich müssen wir Hanslick recht geben. Trotzdem wollen wir etwas genauer hinblicken.
Da fällt zum einen der unzulässige Zirkelschluss auf: Cooke führt das Beispiel an, um damit die These zu beweisen, dass der Komponist in die Musik seine eigenen konkreten Gefühle verpackt. Diese wiederum ist die Voraussetzung dafür, behaupten zu können, dass der Hörer versteht, was der Komponist emotional mitteilen will. Dieses erst zu beweisende Verständnis setzt er aber voraus, wenn er angibt, das Thema genau so interpretieren zu können. Eigentlich leuchtet ein, dass wir erst dann sagen können, ob ein Komponist in der Lage ist, ein konkretes Gefühl in Musik auszudrücken, wenn wir in der Lage sind, dies auch zu verstehen, denn erst dann können wir die Behauptung auch wirklich kontrollieren. Die Argumentation ist also vorläufig vergebliche Liebesmüh’.
Setzen wir nun aber mal voraus, dass die zweite These bereits bewiesen ist, dann bleibt Hanslicks Einwand bestehen. Dass Beethoven seine eigenen Gefühle über den Tod eines Helden in das Thema gepackt hat, ist reine Spekulation, die sich aus der Expressivität des Themas keinesfalls herauslesen lässt. Selbst wenn es zutreffen würde und etwa durch eidesstattliche Aussagen Beethovens erhärtet werden könnte («Ich schwöre, dass ich beim Schreiben des Themas die Trauer über den Tod eines Helden als Modell vor mir hatte»), heisst das noch nicht, dass ihm dies auch gelungen ist. Die gute Absicht genügt eben nicht. Die Frage, ob Beethoven den Trauermarsch als Hommage an einen toten Helden gedacht haben könnte, ist nicht entscheidend.
Für eine solche Annahme gibt es zugegebenermassen gute Gründe. Ein Trauermarsch als Grundlage für den langsamen Satz in einer Sonatenform war zur Zeit Beethovens höchst ungewöhnlich, und der langsame Satz der etwa gleichzeitig entstandenen Klaviersonate op. 26 ist sogar mit «Marcia funebre sulla morte d’un Eroe» überschrieben. Das Thema drängt sich also wirklich auf. Aber selbst wenn Beethoven den zweiten Satz der Eroica mit «Marcia funebre sulla morte d’un Eroe» überschrieben hätte, wäre noch immer nicht gesagt, dass das Thema die Sorge oder Trauer tatsächlich zum Ausdruck bringt. Es gibt sogar einiges, das dagegen spricht. Der Satz ist nämlich formal durchaus kühn, mit einem kontrastierenden Trio in C-Dur, einem expressiven Fugato und einer Wiederaufnahme des Themas mit unterlegtem «Off-Beat»-Rhythmus, der ihm etwas Ironisches oder Bizarres verleiht. Als «Hommage an einen toten Helden» wäre das Stück zweifelsohne allzu frivol.
Nein, Hanslick hat Recht. Die Melodie ist getragen, gedrückt und dumpf. Dass es sich dabei um die Gedrücktheit und Dumpfheit der Trauer um einen toten Helden handelt, dies lässt sich aus der Musik nicht heraushören. Man kann vermuten, das Beethoven so etwas im Kopf hatte, aber dies bloss aufgrund aussermusikalischer Belege, und für das musikalische Verständnis des Stückes spielt es keine Rolle.
Man kann sich ebenso gut vorstellen, dass der zweite Satz das Szenario eines nebligen Morgengrauens auf einem Feld darstellt, auf dem eine entscheidende Schlacht geschlagen werden soll. Dann hört man plötzlich eine unterschwellig bebende Anspannung heraus, die zu einem triumphalen Sieg führen soll. Für eine nicht minder einleuchtende Interpretation könnte die Vorstellung einer unterdrückten Wut über eine persönliche Niederlage herhalten, die sich in anklagenden Selbstzweifeln entlädt und so weiter und so fort.
Die starke Theorie der musikalischen Expressivität steht und fällt also damit, dass man die zweite These beweisen kann, nämlich, dass der Hörer in der Lage ist, aus der Musik ein konkretes Gefühl herauszuhören («die Trauer über den Tod eines Helden»).
Welche Argumente führt Cooke dafür an?
Seine Verfechtung der schwachen Theorie kann man getrost überspringen, da wir sie ja nicht bestreiten. Zur starken meint er, wie wir bereits angetönt haben, folgendes:
Könnte es nicht sein, dass einige Hörer einfach unfähig sind, die in der Musik ausgedrückten Gefühle adäquat zu verstehen? Dies kann sogar in der Literatur der Fall sein: Ich habe Edmund aus King Lear schon als zynischen Schmetterling dargestellt gesehen, und das Publikum reagierte dementsprechend mit Kichern. (…) Tatsache ist, dass die Menschen nur auf diejenigen in der Kunst ausgedrückten Gefühle reagieren können, die sie selber zu fühlen im Stande sind. (…) Die wirklich musikalische Person mit einer normalen Fähigkeit auf Gefühle anzusprechen, versteht den emotionalen Gehalt eines Musikstückes in dem Masse, in dem er ihn selber erfahren kann.[5]
Das Argument hat etwas von einem Taschenspielertrick. Denn es setzt ebenso wie im ersten Fall voraus, was es beweisen soll. Denn damit jemand etwas falsch verstehen kann, muss bereits bewiesen sein, dass es ein richtige Interpretation geben kann, das heisst, es muss das vorausgesetzt werden, was man beweisen will: dass man den emotionalen Gehalt von Musik «richtig» verstehen kann. Zudem will Cooke beweisen, dass es möglich ist, konkrete, differenzierte Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Als Kriterien für ein korrektes Verstehen von emotionalem Gehalt führt er hingegen lediglich scheinbar offensichtliche Fehlurteile an, wie, dass der Trauermarsch aus der Eroica eine Art skurriles Scherzo[6] sei.
Das Gegenbeispiel ist unglücklich, weil es zwei völlig unterschiedliche Kriterien vermengt: Das Erkennen einer konventionellen musikalischen Form (Scherzo) und einer allgemeinen Gefühlscharakteristik. Dass etwa der Trauermarsch aus der Eroica skurril ist, könnte, wie schon angetönt, mit einigen guten Argumenten durchaus verfechtet werden.
Mit andern Worten: Cooke hat in mehrfacher Hinsicht das Thema gewechselt, ohne den Beweis für die Ausgangsthese überhaupt nur in Angriff genommen zu haben.
Und wieso?
Weil es einen solchen Beweis nicht gibt.
Zu Beginn des zweiten Kapitels macht Cooke unmissverständlich klar, dass er so etwas wie ein Wörterbuch der musikalischen Sprache vorlegen will: «Die Aufgabe, vor die wir uns gestellt sehen, besteht aus einer Antwort auf die Frage, wie genau Musik als Sprache funktioniert, aus dem Festlegen der Ausdrücke ihres Vokabulars und einer Erklärung, wie man von diesen Ausdrücken legitimerweise sagen kann, sie gäben dem Gefühl Ausdruck, dem sie solchen zu geben scheinen.»[7] Mit dem Vokabular ist es ihm denn auch tatsächlich ernst.
Seine Zusammenfassung für die grundlegenden expressiven Funktionen der zwölf Töne der Skala sieht folgendermassen aus:[8]
Tonika | Gefühlsmässig neutral, Kontext des Abschliessens |
Kleine Sekunde | Halbtonspannung abwärts zur Tonika. In einem Moll-Kontext: kraftlose Ängstlichkeit, Kontext des Abschliessens |
Grosse Sekunde | Als Durchgangston gefühlsmässig neutral, als Ganztonspannung abwärts zur Tonika in einem Dur-Kontext angenehmes Sehnen, Kontext des Abschliessens. |
Kleine Terz | Eintracht, aber ein Niederdrücken der natürlichen Terz, stoisches Sich-Fügen, Tragödie |
Grosse Terz | Eintracht, natürliche Terz: Freude |
Quarte | Als Durchgangsnote gefühlsmässig neutral, als Halbtonspannung abwärts zur grossen Terz pathetisch |
Tritonus | Als modulierende Note in der Dominanttonart aktives Sehnen. Als übermässige Quart reine, einfache, teuflische und feindliche Kraft |
Dominante | Gefühlsmässig neutral, Kontext des Fliessens, Dazwischensein |
Kleine Sexte | Halbtonspannung abwärts zur Dominante. In einem Moll-Kontext aktive Ängstlichkeit in einem Kontext des Fliessens |
Grosse Sexte | Als Durchgangsnote gefühlsmässig neutral, als Ganztonspannung abwärts zur Dominante in einem Dur-Kontext angenehmes Sehnen in einem Kontext des Fliessens |
Kleine Septime | Halbtonspannung abwärts zur grossen Sexte oder Ganztonspannung abwärts zur kleinen Sexte, beides unbefriedigend, weitere Auflösung abwärts zur Dominante: «verlorene» Note, trauergefärbt |
Grosse Septime | Als Durchgangsnote gefühlsmässig neutral, als Halbtonspannung aufwärts zur Tonika aggressives Sehnen, Sehnen in einem Kontext des Abschliessens |
Dass er in der Aufzählung einen Kategorienfehler begeht – er bezeichnet die meisten Intervalle mit ihrem absoluten Abstandswert und Prim und Quinte mit ihren Funktionen in der riemannschen Funktionsharmonik –, könnte man ihm nachsehen. Tatsächlich aber sind seine Argumente bei der Erarbeitung der Tafel voll von solchem Hin- und Herspringen zwischen den unterschiedlichsten Funktionen eines Intervalls. Vor allem einerseits relativ zu seiner absoluten Stellung in der Tonleiter, andererseits als absoluter Intervallwert.
Die Kritik sei mit einem Beispiel, der Erörterung der Terzen, illustriert. Laut Cooke hat sich die grosse Terz in der frühen Neuzeit als Symbol für Freude und Glück etabliert, dann nämlich, als sie in die sakrale Musik aus Oktaven, Quinten und Quarten das «humane» Element der Terz eingeführt hat. Die kleine Terz sei dann schnell einmal als alterierte grosse Terz verstanden worden, die einen trauernden Charakter in die Musik einbringe. Die Zuweisung Dur = fröhlich, Moll = traurig relativiert Cooke allerdings wieder mit Hinweisen auf Gegenbeispiele, Mahlers Totenmarsch aus dem Saul und sein Lied der Erde (beide traurig, aber in Dur) und Bachs «Badinerie» aus der Suite Nr. 2 (fröhlich, lebhaft in Moll)[9]. Hingegen führt er ein Fülle von Beispielen an, die zeigen, dass die Dur- respektive Mollterz zum Ausdruck fröhlichen respektive traurigen Ausdrucks verwendet wurde.
Für den spezifischen Ausdruck der Terzen führt Cooke einen weiteren Grund an: Im Dreiklang hätten beide die Funktion eines Abschlusses am Eingang in der Mitte oder am Ende eines Stückes. Sie müssen im Gegensatz zu den andern Tönen der Tonleiter (ausser natürlich Quint und Oktav) nicht aufgelöst werden – solange sie «ihren Charakter als Teil des Dreiklangs beibehalten».[10] Die Terz habe deshalb einen gesetzten Charakter, in der Durversion auf angenehme Art, in der Mollversion mit Schlagseite Richtung Schmerzensausdruck. Die Durterz bringt im Kontext des Dreiklangs deshalb etwas Befriedigendes, Freudiges zum Ausdruck – mit Blick auf die «schönen Seiten des Lebens». Die Mollterz neigt dafür zu Ernsthaftigkeit und Trauer.
Man darf bei all diesen Ausführungen nicht aus dem Auge verlieren, dass Cooke bloss von der dritten Stufe der diatonischen Tonleiter spricht. In Bezug auf den Dreiklang erhält seine Charakterisierung der Terzen absolut genommen nämlich bereits schwere Schlagseite, wenn man bedenkt, dass beide Dreiklänge, die Dur- und die Mollvariante, aus je einer Dur- und einer Mollterz bestehen, bloss anders angeordnet. Der Charakter des Dreiklangs wird also nicht durch die Dur- oder Mollterz alleine, sondern durch die Art ihrer Anordnung bestimmt.
Damit nicht genug. Wie wir den Charakter einer Terz für sich alleine genommen empfinden, hängt sehr davon ab, in welchen Kontext wir sie stellen. Man kann die Probe aufs Exempel selber sehr einfach machen. Man singe bloss eine fallende grosse Terz und denke sich dabei, es sei der Schritt 3 –1 in der Durtonleiter. Nun singe man dieselbe fallende Terz und denke sich dabei, es handle sich um den Schritt 8 – 6 einer Molltonleiter, den man probeweise auch gleich in die Quinte (Cooke würde «Dominante» sagen) auflösen kann. Derselbe physikalisch erklingende Tonschritt hat beide Male einen ganz andern Charakter, das eine Mal wirkt er stabil und hell, das andere mal spannungsreich und dunkel.
Man kann Cooke zugute halten, dass man alle diese Probleme in den Griff bekommen könnte. Tatsächlich ist er sich bewusst, dass es Rahmenbedingungen für die Expressivität gibt. Er nennt sie «Vitalizing Agents»[11]. Gemeint sind Lautstärke, Geschwindigkeit und absolute Tonhöhe, die auf den expressiven Charakter ebenfalls einwirken und die Grundcharaktere teils völlig umstürzen können.
Man erinnere sich, dass etwa GTTM auch nicht gerade ein einfaches Modell der Musik darstellt. Mit genug Geduld und gedanklicher Schärfe liesse sich womöglich eine Theorie aufstellen, in der alle diese Ebenen und Kontextabhängigkeiten sauber dargestellt wären. Wenn man dann die einzelnen Grundelemente wirklich sauber isoliert hätte – davon ist Cooke weit entfernt –, könnte man die Frage erst wirklich stellen, ob ihnen stabile, interpersonale und überprüfbare Ausdrucksqualitäten zukommen. Dafür zuständig wäre aber die Experimentalpsychologie. Alle Versuche, die diese bislang in einer solchen Richtung unternommen hat, sind jedoch gescheitert – mit zwei, drei bemerkenswerten Ausnahmen, auf die weiter unten zurückgekommen werden soll, und die tatsächlich einen der Schlüssel zum Verständnis dessen liefern könnten, was musikalische Expressivität bedeutet.
Selbst unter dieser Bedingung sind wir noch weit entfernt, von einer musikalischen Sprache reden zu können. Denn Cooke hat den Basiselementen bloss bestimmte Ausdrucksqualitäten zugewiesen. Zur Sprache würde das Ganze aber erst, wenn sich diese Ausdrucksqualitäten mit syntaktischen Mitteln zu komplexeren Aussagen kombinieren liessen.
Cooke skizziert die Art und Weise, wie die passende musikalische Syntax aussehen könnte – im Wesentlichen ist sie nichts anderes als die zeitliche Abfolge unterschiedlicher Emotionen, die sich in der Abfolge zu einem inneren emotionalen Drama zusammenfügen:
- Ein Komplex von Gefühlen im Innern des Komponisten drängt dazu, in eine musikalische Form gebracht zu werden.
- Das Wissen des Komponisten darum, wie musikalische Formen gebaut sind, dient als unbewusster Leitfaden zum Entwurf eines allgemeinen Musters, der grossen Form. Ein Konzept entsteht.
- Der Komplex von Gefühlen wird in Grundbausteine der Komposition gebracht. Dieser Prozess unterliegt der Inspiration.
- Die kreative Imagination verhilft dazu, mit den Grundbausteinen auf Basis eines ständigen unbewussten Prozesses des Entwerfens, Verwerfens und Prüfens die grosse Form zu füllen.
- Während des in Schritt 4 beschriebenen Prozesses entstehen dank Inspiration immer neue ergänzende Grundbausteine, die den Komplex der Gefühle immer differenzierter in Musik umsetzen helfen.
- Schliesslich entsteht aus diesem Prozess die vollendete komplexe Komposition.
Das Schema hat zweifelsohne eine gewisse Glaubwürdigkeit, greift aber wie alle andern Argumente Cookes zu kurz, wenn es erklären soll, wie konkrete Gefühle – der mittlerweile vielbemühte Tod eines Helden und nicht bloss Trauer, Gedrücktheit und Schmerz – kommuniziert werden könnten.
Cookes Theorie erhält ein gewisse Glaubwürdigkeit durch eine ihm sicherlich unbewusste Strategie. Es werden ständig die beiden Ebenen vermischt, die Hanslick so klarsichtig zu trennen wusste. Zum Einen das «Dynamische der Gefühle», zum andern konkrete Inhalte. Die Belege zum Beispiel dafür, dass der Trauermarsch der Eroica dunkel, gedrückt und depressiv ist, sind einleuchtend – auch Hanslick würde sie akzeptieren. Die Verbindung mit der Vorstellung des Todes eines Helden ist es aber nicht, obwohl sie Plausibilität hat. Die Plausibilität liegt in der Asymmetrie von Bedeutungsschaffen und Bedeutungsverstehen. Es ist sehr gut möglich, dass Beethoven an den Tod eines Helden gedacht hat, als er den Trauermarsch schrieb. Die Charakterisierung ist und bleibt aber eine allgemeine. Das heisst, der Hörer kann eben bloss das wesentlich allgemeinere Dynamische der Gefühle hören.
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[1] Deryck Cooke, The Language of Music, Oxford University Press, Oxford 1959; Die Zitate sind der Paperbackausgabe von 1989 entnommen.
[2] a.a.O., Seite 177
[3] a.a.O. Seite 174
[4] a.a.O., Seite 17
[5] a.a.O., Seite 21
[6] a.a.O., Seite 24
[7] a.a.O., Seite 34
[8] a.a.O., Seite 89f
[9] a.a.O., Seite 51
[10]a.a.O., Seite 64
[11] a.a.O., Seite 94