Das Modell

In der Musikwirkungsforschung heute genutzte formale Beschreibungen von Musik stammen aus Zeiten, in denen ein Studium kognitiver akustischer Wahrnehmungen mit Hilfe bildgebender Verfahren noch jenseits der Vorstellungskraft lag. Die meisten basieren auf Konzepten von Musiktheoretikern der 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Rameau, Riemann, Schenker und andere). Sie sind nicht entwickelt worden, um die physiologischen und kognitiven Prozesse des Musikhörens abzubilden, sondern um dem Praktiker, sei er Komponist, Pädagoge oder Interpret, Mittel in die Hand zu geben, sich in musikalischen Strukturen zurechtzufinden und sich in der musikalischen Praxis darüber auszutauschen. Zu den klassischen Musiktheorien gesellten sich im 20. Jahrhundert mathematische Modellierungen. Aber auch diese basieren in der Regel nicht auf den elementaren Prozessen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinneseindrücken (aktuelle Forderungen, die Theorien in der Kognition zu fundieren, werden allerdings mittlerweile erhoben[1]).

Die reale Musikerfahrung folgt bislang nicht systematisch modellierten Prozessen. Sie basiert auf der Wahrnehmung akustischer Signale, die prinzipiell physikalisch messbar sind. Gareth Loy[2] folgend werden wir diese physikalisch direkt messbaren Vorgänge des Musikhörens als Objekte eines Φ-Universums (eines physikalisches Universums) bezeichnet[3]. Aus den Sinnesdaten des Φ-Universums konstruiert das menschliche Hirn in einem psychologischen Ψ-Universum (einem psychologischen Universum) Objekte höherer Ordnung, die in ihrer gestalthaften Gesamtheit als Musik erlebt werden. Das Verhalten solcher nur imaginativ existierenden Objekte lässt sich höchstens indirekt physikalisch messen. Welchen ontologischen Status diese abstrakten Objekte haben, die bloss dem individuellen Hörer introspektiv zugänglich und interpersonal nicht teilbar sind, muss vorerst offen bleiben.

Es ist aber anzunehmen, dass eine tiefere Beziehung zwischen den Eigenarten des Φ– und Ψ-Universums und fundamentalen erkenntnistheoretischen Fragen besteht. Die Aussenwelt, das Ding-an-sich oder wie immer man die Welt ausserhalb unseres Erkenntnisvermögens nennen will, ist uns in ihrer Beschaffenheit nicht erschliessbar. Unser Ψ-Universum folgt jedoch vermutlich Zwecken ‒ einer Teleologie, die nicht auf reine Erkenntnis, sondern auf Sichzurechtfinden und angemessenes Agieren in der Umwelt abzielt. So scheinen etwa die abstrakten Klassen mehrstelliger Relationen Konstrukte unseres zweckgebundenen Organisationsbedürfnisses der Welt zu sein. Wenn wir feststellen, dass ein Baum rechts von einem Stein steht, tun wir dies mit Blick darauf, uns in unserer Umwelt zu orientieren. Diese Art der Orientierung hat immer einen Zweck.

Die Zweckgebundenheit unserer Art, die Welt zu strukturieren, scheint ein fundamentales erkenntnistheoretisches Prinzip und spiegelt sich auch im Universalienstreit, respektive in Entwürfen zu einer Tropenontologie oder eines moderaten Realismus[5]. Musik ist eine aktive Schöpfung unseres Gehirns und unseres emotionalen Systems. Dieser Schöpfungsprozess widerspiegelt die Aufgaben, welche die Weltwahrnehmung und Klassifikation von Ereignissen für uns ontologisch hat. Erwartungen spielen dabei eine bedeutende Rolle. Das Prinzip erfreut sich etwa auch wachsender Bedeutung in Konzeptionen wie dem sogenannten «Predictive Coding». Es ist denn auch kein Zufall, dass das Prinzip des Vorausdenkens, das von Leonard B. Meyer[4] als fundamentales Prinzip des Musik-Erlebens analysiert worden ist, in der Musikpsychologie einen derart grossen Einfluss erhalten konnte.

Introspektive Erfahrung legt die Vermutung nahe, dass Objekte eines Φ-Universums und solche eines darauf aufbauenden Ψ-Universum nicht scharf getrennt werden können. Die beiden Universen scheinen verschränkt zu sein. Musikalische «Dinge» werden kognitiv als Bündel von Eigenschaften erlebt, die ‒ wie Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke ‒ sowohl dem Φ-Universum angehören können, als auch dem Ψ-Universum. Zu ersteren gehören Tonhöhe und ‑dauer, zu letzteren etwa Färbungen von Tönen, die sie bestimmten Stufen einer Tonleiter zuordnen lassen (sie haben zum Beispiel Quint- oder Terzcharakter), oder Schlusswirkungen von Kadenzen und die aus den physikalischen Daten (den Frequenzabläufen) nicht abgelesen werden können.

Eine unabdingbare Voraussetzung für Experimentaldesigns, die es möglich machen, das Musikhören empirisch zu erforschen, ist höchstmögliche Klarheit über die Beschaffenheit musikalischer Objekte. Um wissen zu können, wovon wir überhaupt sprechen, brauchen wir Identifikationskriterien für musikalische Objekte. Dazu gehört eine sorgfältige Analyse von Eigenschaften musikalischer Objekte, insbesondere der Frage, welche dieser Eigenschaften dem Φ-Universum, resp. dem Ψ-Universum zuzuschreiben sind ‒ und welche Eigenschaften musikalischer Objekte Konstruktionen auf Basis früherer musikalischer Erfahrungen darstellen oder gegebenenfalls bloss Zuschreibungen aufgrund erlernter Theorien darstellen. Dazu ist eine präzise, mit Vorteil modelltheoretisch formal gefasste Ontologie musikalischer Gegenstände vonnöten. Aufgrund dieser müssen sich musikalische Objekte beliebiger Komplexität exakt definieren lassen. Ziel dieses Projektes ist es, die Grundzüge einer solchen Ontologie aufzuzeigen.

Ausgangspunkt der Ontologie ist eine Definition von «Musik», die musikalische Hörerfahrung als Durchlaufen eines virtuellen Raumes (einer akustischen «Virtual Reality») versteht. Notwendige Bedingung dafür, dass wir akustische Erfahrungen als Musik bezeichnen, ist dabei der Eindruck, akustische Ereignisse konstituierten einen virtuellen Raum.

Es ist eine interessante Frage, wie exakt diese Definition von «Musik» sich intensional und extensional mit den akustischen Erfahrungen deckt, die wir intuitiv als Musik bezeichnen würden. Diese Erörterungen sollen zunächst beiseite gelassen werden. Das folgende Modell muss demnach als formale Ableitung aus dieser Definition von «Musik» verstanden werden. Je nachdem, in welchem Umfang die sich dabei ergebende Theorie intuitiv als korrekte Beschreibung allgemeiner Musikerfahrungen erweisen wird, darf die Fundamentaldefinition als mehr oder weniger angemessen betrachtet werden.

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[1] G A Wiggins, D Müllensiefen, M T Pearce: «On the non-existence of music : Why music theory is a figment of the imagination», Musicæ Scientiæ, Discussion Forum 5, 2010, S. 231-255

[2] Gareth Loy: Musimathics : the mathematical foundations of music, MIT Press, Cambridge (Mass.) 2011, S. 155

[3] Der griechische Buchstabe «Φ» (Phi) steht dabei für «physiologisch», «Ψ» (Psi) dementsprechend für «psychologisch» (s.u.).

[4] Leonard B. Meyer: Emotion and Meaning in Music. Chicago: Chicago University Press (1956).

[5] D. W. Mertz: Moderate Realism and Its Logic, Yale University Press 1996.