Boetius und die Stagnation des Denkens

Durchs Mittelalter hindurch orientiert sich die europäische Musikwelt vor allem an einem Werk, den «Fünf Büchern über die Musik» von Boetius (ca. 480 – 524 n. Chr.), der sich wiederum hauptsächlich auf Ptolemäus abstützt. Von dem neuplatonischen Denker ist breiteren Kreisen in erster Linie die Schrift «Trost der Philosophie» bekannt. Das Leben von Boetius ist recht bewegt. Dem Sohn eines römischen Konsuls wird eine sorgfältige Erziehung angediehen, die ihn zu einem der gebildetsten Männer Roms macht. Der Ostgotenkönig Theoderich überträgt ihm schon in jungen Jahren die Regulierung des Münzwesens, und der Burgunderkönig Gunobald erbittet von ihm eine Wasser- und Sonnenuhr. Der hochgeachtete, selber zum Konsul ernannte Wissenschaftler fällt später in Ungnade und wird des Hochverrats angeklagt. Der «Trost der Philosophie» entsteht im Kerker vor seiner Hinrichtung in Pavia.

Boetius popularisiert die bis weit in die Neuzeit vorherrschende Einteilung der Musik in musica mundana, musica humana und musica instrumentalis. Die erste ist die Musik des Weltalls oder die Sphärenmusik, die zweite ist Widerspiegelung der ersten in den menschlichen Dimensionen und die dritte diejenige, die von Menschen erzeugt wird. Für den Beweis der Existenz einer musica mundana greift Boetius zum logischen Schluss des Widerspruchs: Wie wir alle am Himmel beobachten können, bewegen sich die Gestirne überaus schnell; es ist unvorstellbar, dass eine solche Bewegung keine Töne erzeugt. Da nun die Bahnen der Gestirne in harmonischen Verhältnissen zueinander stehen, erklingt sogar eine harmonische Musik.

Das musikästhetisch interessanteste Kapitel der «Fünf Bücher» ist das 34. des ersten Buches mit dem Titel «Was ein Musiker ist». Hier sorgt Boetius dafür, dass die Geringschätzung des praktischen Musikers durchs ganze Mittelalter hindurch bis weit in die Neuzeit gewahrt bleibt. Es ist, meint er, «bedeutend wichtiger und erhabener, das zu wissen, was jeder praktische Künstler tut, als selbst es zu machen.» Die Wissenschaft ist «die Herrin der praktischen Ausführung». Die Privilegierung des Geistigen geht bei Boetius so weit, dass er behauptet, die wissenschaftliche Forschung bedürfe der praktischen Ausführung nicht. Unter Umständen stört sie diese sogar, etwa, wenn die exakten Intervallverhältnisse bestimmt werden müssen. Das Ohr täuscht sich immer, bloss die logische Betrachtung führt zur Erkenntnis der wahren Verhältnisse.

Die mittelalterliche Hierarchie der Musiker gestaltet sich nach Boetius demnach folgendermassen:

Es gibt also drei Klassen, welche sich mit der Musik beschäftigen. Die eine beschäftigt sich mit dem Spielen von Instrumenten, die andere komponiert Lieder, die dritte beurteilt die Instrumentalleistungen und die Komposition der Lieder.

Diejenigen nun der erstgenannten Klasse, also die sich mit Spielen der Instrumente beschäftigen und alle Mühe darauf verwenden, zum Beispiel die Zitherspieler, oder diejenigen, welche auf der Orgel oder den übrigen musikalischen Instrumenten ihre Kunst beweisen, sind von einer tieferen Einsicht in die musikalische Wissenschaft weit entfernt, weil sie, so zu sagen, nur dienen und keine Wissenschaft in Anwendung bringen, sondern ganz und gar unteilhaftig aller Erforschung sind. Die zweite Klasse der Musiktreibenden ist die der Komponisten, welche mehr durch einen natürlichen Instinkt zur Verfertigung eines Liedes gelangt, als durch wissenschaftliche Forschung, weswegen auch diese Klasse von der Musik (nämlich als Wissenschaft betrachtet) zu trennen ist. Die dritte Klasse ist die, welche sichere Erfahrung der Urteilskraft besitzt, so dass sie Rhythmus, Melodie und die ganze Komposition abwägen kann. Diese Klasse nun, da sie sich ganz und gar mit wissenschaftlicher Erforschung beschäftigt, gehört eigentlich zur Musik. Der also ist ein Musiker, welcher die Fähigkeit besitzt, gemäss der wissenschaftlichen Erforschung und Regel in der Musik über Tonart und Rhythmus, über Klanggeschlechter und deren Vermischung, über die Lieder der Composition, kurz über alles zu urteilen, was wir später entwickeln werden.[1]

Heute sieht man das vermutlich nicht mehr so eng.

Zu Beginn des fünften Buches legt Boetius detailliert dar, was von der praktischen Erfahrung zu halten ist. Die harmonische Fähigkeit hat zwei Instrumente, das Gefühl und die Vernunft. Das Gefühl nimmt zwar etwas wahr, aber noch ungenau und verworren. Erst die Vernunft erkennt auf Grund der Gefühlserlebnisse und deren Interpretation die Wahrheit.

Das Verhältnis zwischen Gefühl und Vernunft illustriert Boetius mit folgendem Beispiel: Zu einer gegebenen Linie eine grössere oder kleinere zu finden, ist für den Sinn einfach. Will man nach einer bestimmten Messung eine um ein bestimmtes Mass grössere oder kleinere finden, so hilft nur geistige Arbeit: Man muss messen und dazu eine Masstheorie haben, deren Richtigkeit man logisch gezeigt hat.

Erst Jahrhunderte nach Boetius beginnen sich der Musikästhetik – mit dem schottischen Mönch Johannes Scotus Eriugena – neue Aspekte zu öffnen: Eriugena versucht, die neuplatonischen Ideen mit christlichem Denken unter einen Hut zu bringen. Auch Eriugenas Leben ist bewegt. Er wird um etwa 800 als Schotte in Irland geboren und von Karl dem Kahlen 843 mit der Leitung einer Schule in Paris betraut. Dort spielt er eine Schlüsselrolle im berühmt-berüchtigten Universalienstreit der Nominalisten und Realisten.

Das Universalienproblem entsteht aus der Konfrontation der Werke Platons und Aristoteles’. Platon stellte sich auf den realistischen Standpunkt, dass Allgemeinbegriffe oder «Ideen» die wahre Wirklichkeit ausmachten, Aristoteles sah die Allgemeinbegriffe bloss als abstrakte Namen und meinte als Nominalist, nur die Einzeldinge seien wirklich. Eriugena selber nimmt eine dezidiert realistische Position ein, was ihm prompt den Vorwurf des Ketzers einträgt, der bloss «Schottischen Porridge» produziere. Seine Grundthese ist, dass biblische Offenbarung und rationale Philosophie einander gleichberechtigt gegenüber stehen, die rationale Philosophie als Verkörperung der Vernunft aber den Vorzug habe, wenn beide in Widerspruch gerieten (das Motiv findet sich übrigens in Umberto Ecos Bestseller «Der Name der Rose» wieder, der mit Sean Connery in der Hauptrolle verfilmt worden ist). Derartige Ideen werden von klerikaler Seite als Angriff auf die eigene Macht verstanden. Die katholische Kirche hat sich übrigens erst sehr spät mit dem Primat der Wissenschaft über die Theologie abgefunden.

Eriugena hat sich auch als Übersetzer des ominösen «Corpus Dionysiacum» des Dionysos Areopagita seine Meriten verdient. Sie inspiriert ihn zu seinem Werk «De divisione naturae», das in die christliche Theologie eine neuplatonische Hierarchie einführt. Vor allem aber bringt er eine neue Perspektive ins Gefüge der Sphärenharmonie. In Eriugenas Kosmologie drehen sich bloss noch der Mond, Saturn und die Fixsternsphäre um die Erde. Die andern Planeten kreisen um die Sonne, die wiederum ebenfalls um die Erde kreist:

Das Weltbild des Johannes Scotus Eriugena:
Mond, Sonne, Saturn und Fixsterne kreisen um die Erde,
die restlichen Planeten um die Sonne.

Seine Erörterungen zur eigentlichen Sphärenharmonie sind allerdings sehr spärlich, sie finden sich bloss in Kommentaren zum Werk des Denkers Martianus Capella. Nach seiner Überzeugung dreht sich die Fixsternsphäre am schnellsten um die Erde, gefolgt von Mond. Am langsamsten ist Saturn. Sein System der zugeordneten Intervalle hat eine Spannweite von zwei Oktaven. Zudem geht er davon aus, dass der von den Sphären erzeugte Klang nicht statisch ist, sondern von der Stellung der Planeten abhängig bleibt. Wenn zum Beispiel Sonne und Saturn am weitesten voneinander entfernt sind, erzeugen sie eine Oktave, wenn sie sich am nächsten sind, eine Quarte. Bis ins 15. Jahrhundert sollte dies die einzige echte Modifikation am System der Sphärenharmonie bleiben. Erst 1434 entwickelt Giorgio Anselmi von Parma wieder eine dem Zeitgeist folgende Konzeption eines Himmelsklanges – als kontrapunktisches Zusammenspiel.

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[1] Boetius, Fünf Bücher, I/Kap. XXXIV, übersetzt von Oscar Paul, Leipzig 1872, Reprint bei Georg Olms Verlag, Hildesheim 1985