Musik ist vermutlich die erste abstrakte Struktur, mit der die Menschheit im Lauf ihrer Geschichte in Berührung gekommen ist. Es ist deshalb nicht abwegig anzunehmen, dass der Schritt ins abstrakte und allgemeine Denken vom Erlebnis Musik ausgegangen ist. Und tatsächlich werden die ersten philosophischen Erörterungen in der Menschheitsgeschichte in enger Nähe zur musikalischen Erfahrung dargelegt.
Am bekanntesten ist heute die Philosophie des pythagoreischen Geheimbundes. Pythagoras hatte – aufgrund von älteren Überlieferungen, die er vermutlich in Ägypten kennen gelernt hatte – postuliert, dass der Urgrund der Welt die Zahlen seien, oder einfacher ausgedrückt: Dass letztlich alles Zahl sei. Zu dem Schluss kamen Pythagoras oder seine Vorgänger durch die Beobachtung physikalischer Phänomene an der Musik. Es fiel ihm auf, dass die Töne einer als natürlich empfundenen Tonleiter einen sehr engen Zusammenhang hatten mit einfachen Zahlenverhältnissen. Halbierte man etwa eine Saite eines Saiteninstruments, so erzeugte sie mit der nicht halbierten eine Oktave, legte man den Finger genau im Abstand eines Verhältnisses von Zwei zu Eins auf die Saite, so erzeugte man eine Quinte und so weiter. Es gab nichts Vergleichbares im Reich der sinnlichen Erfahrung und der Aussenwelt, das eine so hohe Genauigkeit und Einfachheit erreichte. Zusammen mit der Tatsache, dass Musik das Gemüt zutiefst zu berühren vermag, schienen die Hinweise deshalb überwältigend, dass es sich bei der Musik um etwas Grundlegendes handeln musste, um ein Phänomen, in dem sich offenbar der Bau der Welt in ihrem tiefsten Innern widerspiegelte.
Um zu begreifen, was für eine elementare Bedeutung die Musik in der Entwicklung des abstrakten Denkens gehabt hat, muss man sich nun bewusst werden, welche fundamentalen Denkschritte über den profanen Alltag hinaus dank der musikalischen Spekulation gegangen werden konnten. Der eine ist das, was der magische Mensch als Analogiegesetz bezeichnet, der zweite das zahlentheoretische Potential, das der musikalischen Obertonreihe innewohnt.
Das Analogiegesetz ist eines der fundamentalsten Prinzipien in der Mystik und in einer modernen Form auch der zeitgenössischen Wissenschaft – auch wenn das die Wissenschaftler, die sich lieber grundsätzlich von den Mystikern abgrenzen möchten, in der Regel nicht gerne hören. Das Analogiegesetz besagt in einer besonderen Form, dass der Makrokosmos – die Welt in ihren kosmischen Dimensionen – der Spiegel des Mikrokosmos bildet. Es steht am Anfang des wissenschaftlichen Denkens, ist der erste wichtige Schritt in die Abstraktion und sozusagen die Leiter, auf der das Denken in die heutigen Höhen gelangen konnte. Die mystische Ableitung «Die Gesetze des Makrokosmos entsprechen den Gesetzen des Mikrokosmos» ist einer der frühesten Versuche abstrakten Denkens und hat, wie wir sehen werden, die wissenschaftliche Methode um Riesenschritte vorwärts gebracht, obwohl oder gerade weil sie in seiner frühesten Form gescheitert ist.
Weshalb ist das Analogiedenken so wichtig? Aus einem einfachen Grund: Es erlaubt, Aussagen über Strukturen zu machen, die möglicherweise unzugänglich oder wenig erforscht sind, wenn man nachweisen kann, dass sie sich gleich verhalten wie Strukturen, die man bereits kennt. Ein Beispiel einer solchen Entsprechung ist etwa die biologische Regel, nach der die individuelle Entwicklung eines biologischen Organismus ein Spiegel der evolutionären Entwicklung darstellt. Es gibt noch konkretere Beispiele, etwa die Tatsache, dass sich Quecksilber proportional zur Temperatur ausdehnt. Um morgens zu wissen, wie kalt es draussen ist, müssen wir deshalb nicht selber auf den Balkon hinausgehen. Ein Blick durchs Fenster aufs Aussenthermometer reicht aus, um vom Stand der Quecksilbersäule zuverlässig auf die Temperatur zu schliessen.
Was wie eine Analogie aussieht, muss jedoch noch lange keine sein. Viele Phänomene sind nicht gleichförmig. So kann zum Beispiel jemand lange Zeit auf der Autobahn hinter uns herfahren und uns zum Schluss führen, dass er an den gleichen Ort will wie wir, weil er offensichtlich auch exakt die gleiche Route fährt. Der Schluss, dass er uns an unserem Zielort den Parkplatz streitig machen wird, ist jedoch offensichtlich unkorrekt. Nach zwei Stunden beharrlichen Hinterherfahrens ist das rote Cabriolet plötzlich verschwunden.
Unser Leben ist voll von (gerechtfertigten und ungerechtfertigten) Analogieschlüssen. Wir könnten ohne sie gar nicht leben. So schliessen wir aus der Tatsache, dass die Sonne bis jetzt jeden Tag aufgegangen ist, darauf, dass sie auch morgen wieder aufgehen wird – und haben dafür auch eine sehr gut bewährte Rahmentheorie. Das war nicht immer so. Der Sonnenkult antiker Kulturen ist in der Regel mit der Angst gekoppelt, die Sonne könnte eines Tages ihren Dienst verweigern. Der Kellner in unserem Stammlokal bringt uns nach einigen Wochen des immer gleichen Bestellrituals ungefragt, was wir jedesmal wollten (und eigentlich möchten wir heute ja gerade Tee statt Kaffee und wagen es nicht zu sagen, aus Angst, den netten Mann vor den Kopf zu stossen). Wir orientieren uns an Strassenkarten, deren Struktur offensichtlich zu derjenigen der Landschaft draussen analog ist.
Auf eine Analogie können wir uns aber erst wirklich verlassen, wenn wir eine schlüssige Erklärung haben, weshalb sie besteht. Das heisst, wir müssen zur Einsicht gebracht werden, dass die analogen Verhaltensweisen gar nicht anders sein können als sie sind, weil die analogen Phänomene auch analogen Gesetzen gehorchen. In der Regel zieht man sich dabei auf eine gesicherte Rahmentheorie zurück – im Falle des Quecksilbers etwa auf die Thermodynamik. An dieser Forderung scheitert das Analogiegesetz in seiner mystischen Form. Selbst einfache Behauptungen der Analogie werden durch die Erfahrung regelmässig widerlegt (die darauf abgestützten Voraussagen erweisen sich als falsch, oder sie sind so vage, dass sie auf alles und jedes zutreffen), und es ist auch nicht möglich, für die behaupteten mystischen Analogien eine schlüssige Rahmentheorie oder Erklärung vorzulegen.
Am strengsten formuliert wird das Analogiegesetz in der Mathematik – und da hat es auch die schönsten Ausprägungen gefunden. Der Beweis einer Analogie scheinbar weit entfernter Strukturen ist für den Mathematiker so etwas wie Weihnachten, Ostern und Heiraten zugleich. Die Modallogik hat zum Beispiel gezeigt, dass die Analyse der Begriffe Notwendigkeit und Möglichkeit analog derjenigen des ethischen Müssens und Dürfens verläuft, und einer der berühmtesten Sätze der Moderne, der Gödelsche Unentscheidbarkeitssatz, wurde zweimal in analogen, aber unterschiedlichen Strukturen bewiesen: Von Kurt Gödel mittels mengentheoretischer Überlegungen und von Alan Turing in Form eines allgemeinstmöglichen Modells einer Rechenmaschine. Ein befreundeter Mathematiker erklärt sicher, wie man in seinem Fach auch einfache Beweise mit Hilfe solcher Analogien führt. So kann man zum Beispiel die Anzahl der geordneten Untermengen einer Menge dadurch bestimmen, dass man zeigt, dass sie sich genau wie das Zählen im Dualsystem verhält.
Der Mathematiker spricht im Fall einer mathematischen «Analogie» von einer sogenannten Bijektion zwischen zwei Mengen, einer Abbildung, die jedem Element einer Menge A genau ein Element der Menge B (und umgekehrt) zuordnet:
Abbildung 13: Mengentheoretische Darstellung einer Bijektion;
jedem Element der einen Menge ist genau eines
der andern zugeordnet, und dies in beiden Richtungen.
Eine Bijektion reicht allerdings noch nicht aus, denn sie umfasst eben die Rahmentheorie noch nicht. Es gibt deshalb eine mathematische Struktur – Isomorphie genannt – die auch die Beziehungen berücksichtigt, die zwischen den Elementen herrschen. Wenn der Mathematiker weiss, dass zwischen zwei Strukturen ein Isomorphismus herrscht, dann kann er sicher gehen, dass Manipulationen an der einen Menge in der andern analoge Auswirkungen haben.
In der oben angegebenen Bijektion ist zwar jedem Element der Menge A eineindeutig ein Element der Menge B zugeordnet (im Mathematikerjargon bedeutet «eineindeutig», dass die Zuordnung in beiden Richtungen zutrifft). Im Beispiel sind die natürlichen Ordnungsbeziehungen des Grösser-Seins, respektive des Im-Alphabet-aufeinander-Folgens nicht korrekt abgebildet: a ist zwar 1 zugeordnet, b aber 3 und c 5. Wenn wir also in der Menge A sagen, dass a und b unmittelbar aufeinander folgen, so können wir nicht die Pfeile verfolgen, die von a und b ausgehen und dann sagen, dass 1 und 3 unmittelbar aufeinander folgen.