In Europa wird amerikanische Psychologie häufig mit dem Behaviorismus von John Broadus Watson und Burrhus Frederic (alias B. F.) Skinner gleichgesetzt, der das Reiz/Reaktions-Schema zum Dogma erhob. Vor allem der eigentliche Begründer Watson hat eher traurigen Ruhm erreicht. Er führte mit einem Kleinkind ethisch höchst fragwürdige Experimente durch: Dem armen Jungen wurde eine lebenslange Angst vor weissen Ratten «antrainiert» – just um zu beweisen, dass so etwas machbar und mit purer Reflexologie erklärbar ist.
Eine der Grundfesten des Watson/Skinner-Gedankengebäudes ist die strikte Ablehnung der Introspektion und der Beschäftigung mit so schwer greifbaren Dingen wie Bewusstsein, Denken und Fühlen. Dies ist ein wesentlicher Grund, weshalb die Musikpsychologie der reinen behavioristischen Lehre gegenüber nie wirklich warm geworden ist, denn Musik-Erleben und -Verstehen ist ohne Imagination und Introspektion schlicht nicht denkbar. Jeder musikalisch auch bloss ansatzweise geschulte Mensch neigt dazu, in Begriffen wie Erlebnis, inneres Mithören und Nachklingen zu denken.
Dies trifft auch auf Carl Emil Seashore (1866 – 1949) zu, den eigentlichen Begründer der amerikanischen Musikpsychologie. Der in Schweden geborene und als Kleinkind in die USA migrierte Pionier zeigt in seinen Arbeiten eine bemerkenswerte Eigenständigkeit, die sich aus allen theoretischen Rahmenwerken der damaligen Zeit das Beste heraussucht.
Seashore wächst in Iowa als Sohn eines evangelischen Predigers und Zimmermanns auf und entscheidet sich, vor die Wahl gestellt, als Missionar nach China zu gehen oder eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, für letztere. Sein Eintritt ins Psychologische Institut der Universität Yale fällt zusammen mit dessen offiziellem Gründungstag. Reisen führen den jungen Studenten nach Deutschland (zu Wilhelm Wundt) und Frankreich, und mit Kenntnis der kontinentaleuropäischen Methoden bereitet er als Schüler des Yale-Professors George Ladd an der Universität Iowa den Boden für die amerikanische Musikpsychologie.
Berühmt geworden ist sein 1919 veröffentlichter Test zur Messung musikalischer Begabung, der an amerikanischen Schulen breit eingeführt wird. Seashore entwickelt aber auch ein Audiometer, das er ab 1909 kommerziell vertreibt. Kriegsbedingt ist er bis ins hohe Alter aktiv. Zwar wird er 1937 pensioniert – nach einem reichen Leben als Forscher und Verwaltungsbeamter im Schulwesen von Iowa. 1942 muss er kriegsbedingt für Verwaltungaufgaben aber noch einmal an die Schule zurückkehren. Erst 1946, mit 80 Jahren, geht er endgültig in Pension.
Sein Standardwerk «Psychology of Music» mutet stellenweise äusserst modern, ja sogar zeitgeistig an. Man hat fast den Eindruck, dass der Wille zur wissenschaftlichen Einstellung mit dem zweifellos vorhandenen künstlerischen Naturell in Konflikt liegt. Ab und zu bricht letzteres durch, und der Pionier wird beinahe emphatisch. So beschwört er etwa in einer Darlegung von Grundsätzen der Musikpsychologie, dass Musik vor allem mit Abweichungen von festen und klaren Regeln arbeite und der Reiz gerade in diesen Unsauberkeiten liege.[1] Er spricht auch davon – Goleman lässt grüssen –, dass es so etwas wie eine «Intelligenz des Gefühls» geben müsse[2], an anderer Stelle redet er von einem hypotetischen musikalischen Intelligenzquotienten, den er sogar mit «MIQ» abkürzt[3]. Zudem sieht er als eines der grossen Probleme der Musikpsychologie ganz unbehavioristisch die eingangs dieses Kapitels erwähnte Übersetzung der physikalischen Strukturen der Musik in die Begrifflichkeit psychologischer Erfahrung mit musikalischen Bedeutungen.[4]
Seashore wendet sich sogar explizit gegen die behavioristische Schule:
Das vielleicht auffälligste Merkmal des musikalischen Geistes ist das auditive Vorstellungsvermögen, die Fähigkeit, Musik im kreativen Prozess innerlich zu hören und die tatsächlichen physikalischen Klänge nachzuempfinden. Diese Tatsache hat in den letzten Jahren zu wenig Aufmerksamkeit gefunden, vor allem wegen der extrem behavioristischen Einstellung, welche die Existenz geistiger Vorstellung ignoriert, aber auch, weil das Phänomen sich einer exakten psychophysischen Messung entzieht. Aus dem letztem Grund wird es in Tests zur Analyse des musikalischen Talentes ausgelassen. Ich selber möchte ihm jedoch einen zentralen Platz einräumen.[5]
Seashore ist allerdings auch durch und durch Experimentalpsychologe – mit der erklärten Überzeugung, dass Musikästhetik zu einer angewandten, normativen Wissenschaft werde,[6] die sich vollständig auf das Experiment und Messungen abstützt. Seine Verdienste und Originalität auf dem Gebiet werden heute zu wenig gewürdigt, weil die technischen Messmöglichkeiten von Musik seit seinem Wirken buchstäblich explodiert sind und viele damals revolutionäre Einsichten heute trivial scheinen oder zu Allgemeingut geworden sind.
Für die Beobachtung des Schalls bedient sich Seashore eines heute in Vergessenheit geratenen Verfahrens, der Fonofotografie. Dabei werden Schallwellen fotografisch sichtbar gemacht. Die Fotos können in der Folge aufwendig vermessen und damit etwa die exakte Frequenz und die Frequenzänderungen über einen bestimmten Zeitraum bestimmt werden (heute schafft das jedes Kind mit einem Software-Audiosequencer).
Seine Vorstellung von wissenschaftlicher Musikpsychologie exemplifiziert Seashore ausgerechnet am Beispiel des Vibratos, dem spätromantischen Espressivo schlechthin. Ganz dem Zeitgeist des noch jungen 20. Jahrhunderts entsprechend, bezeichnet er das Vibrato als das wichtigste aller Ornamente. (Vermutlich ist er sich nicht bewusst, dass er damit seinen eigenen wissenschaftlichen Grundsätzen untreu wird. Eine solche Behauptung müsste natürlich empirisch belegt werden. Was als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und was als gesunder Menschenverstand betrachtet wird, gehört eben zu den irrationalen Aspekten der Wissenschaft.)
Zur Erforschung des Vibratos wird die Fonofotografie beigezogen. Auf ihrer Basis kann ein Diagramm erstellt werden, in dem sich die Tonhöhen- und Amplitudenschwankungen in der Zeit exakt darstellen lassen. Damit ist das wissenschaftliche Ideal der Messbarkeit auch für ein musikalisches Stilmittel erreicht.
Bei der Untersuchung von Sängern kommt Seasahore zu diesen Schlussfolgerungen:
- Tonhöhenvibrato findet sich in jedem Ton.
- Es findet sich ebenfalls in den Portamenti und den Ein- und Ausschwingphasen.
- Die Schwankung beträgt etwa einen Halbton.
- Die Frequenzrate des Vibratos beträgt durchschnittlich 6,5 Schwingungen pro Sekunde.
- Die Modulationskurve kommt einer Sinuskurve nahe.
- Die Tonhöhenbereich von einem Halbton ist auffallend konstant.
- Auch die Frequenzrate ist auffallend konstant.
- Intensitätsvibrato (Änderungen der Lautstärke), wenn auch sehr schwach, ist etwa in einem Drittel der Zeit zu hören.
- Das Intensitätsvibrato ist schwach, unregelmässig und am Anfang eines Tones oder bei Tonänderungen sehr selten.
- Das Intensitätsvibrato ist dem Tonhöhenvibrato untergeordnet.
- Das Intensitätsvibrato hat etwa die gleiche Frequenz wie das Tonhöhenvibrato.
- Spitzen im Intensitätsvibrato tendieren mit solchen im Tonhöhenvibrato zusammenzufallen, ohne dass eine wirkliche Regelmässigkeit zu erkennen wäre.
- Der Durchschnitt der Tonhöhe fällt mit der exakten physikalischen Tonhöhe weitgehend überein.
- Der Sänger singt nicht eine einzige Note in der eigentlichen, exakten Tonhöhe.
- Wenn sich in der Tonhöhenintonation Schönheit findet, dann in der künstlerischen Abweichung von der exakten Tonhöhe.
Seashore legt auch eine Liste von Kennzahlen (Frequenz und Umfang der Tonhöhenmodulation) zu den Vibrati berühmter Sänger seiner Zeit vor, die wie ein Fingerabdruck (respektive Stimmbänderabdruck) des jeweiligen Künstlers gesehen werden könnten.
Die skrupulösen Messungen führen Seashore tatsächlich zu psychologisch interessanten Schlüssen. So werden wesentlich schwächere Modulationen gehört, als tatsächlich erzeugt werden. Wo im Raum eines Halbtones moduliert wird, glaubt der Hörer bloss die Bandbreite eines Fünfteltones zu hören. Auch der musikalischen Expressivität fühlt Seashore auf den Zahn. Er kommt zum Schluss, dass das Vibrato mit dem Ausdruck von Gefühlen keinerlei Zusammenhang zeigt: Ob der Sänger Liebe, Hass, Ärger oder Wut zum Ausdruck bringt: Das Vibrato ist stets dasselbe. Damit kommt Seashore zum paradoxen Schluss, dass das Vibrato zwar ein hochgradig expressives Stilmittel ist, zur Differenzierung der Ausdrucksqualitäten jedoch nichts beizutragen vermag.
Eine Stelle in der «Psychology of Music» ist insofern interessant, als sie plastisch aufzeigt, dass selbst gewissenhafte Forscher über Vorurteile stolpern können und das Ideal des objektiven Wissenschaftlers, wie es die amerikanische behavioristische Tradition immer wieder beschwört, ins Reich der Legenden gehört.[7]
Zunächst unterscheidet Seashore zwischen dem physiologischen Limit eines Sinnesorgans, gegeben durch die physikalische und physiologische Beschaffenheit des Körpers. Auf der andern Seite setzt er kognitive Limits des menschlichen Geistes. Zum Beispiel kann das Gehör physikalisch und biologisch Frequenzunterschiede bis zu einer gewissen Feinheit unterscheiden. Ebenso hören wir bis zu einem gewissen Grad von Subtilität, ob zwei Töne gleiche oder verschiedene Tonhöhe besitzen. Die beiden Aspekte decken sich im Experiment nicht immer: Das Ohr hört feiner als der Geist wahrnimmt (das Umgekehrte einzusehen ist schwieriger, weil der Geist ja Feinheiten erfinden muss, die in der physikalischen Welt gar nicht existieren). Seashore nimmt diese Lücke nicht einfach hin. Statt anzunehmen, dass gewisse körperliche Reaktionen unbewusst ablaufen, behauptet er dogmatisch, dass in einem solchen Fall die experimentelle Anordnung ungenügend gewesen sein und man nur besser messen müsse, um die Differenz zu beseitigen[8]. Das heisst, selbst ein Seashore ignoriert Resultate, wenn ihm experimentelle Daten nicht ins Konzept passen.
Ansonsten verdanken wir dem trockenen Seashore eine der witzigsten Passagen in der musikpsychologischen Literatur:
Als Dr. Stanton gewisse Phasen des Talentes aller lebenden Angehörigen von sechs der auffallendsten amerikanischen Musikerfamilien messen wollte, fand er heraus, dass einer der Brüder eines Protagonisten einer dieser Familien behauptete, überhaupt kein musikalisches Talent zu besitzen. Dies schien auch die Meinung der Familie zu sein. Der Experimentator wies jedoch nach, dass der Mann in den fünf elementaren Fähigkeiten, die standardmässig gemessen wurden, über ausserordentliche Fähigkeiten verfügte und dabei sogar seinen berühmten Bruder übertraf. Die Versuchsperson gab in der Folge zu, die Überzeugung seiner Unmusikalität sei das Resultat der Tatsache, dass alle Musik, die er bis jetzt gehört habe, ihm so dürftig vorgekommen sei, dass sie ihm nicht tolerierbare Ohrenschmerzen bereitet habe.[9]
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[1] Carl E. Seashore, Psychology of Music, Dover, New York 1938, Seite 29
[2] a.a. O. Seite 58
[3] a. a. O. Seite 8
[4] a. a. O. Seite 26
[5] a. a. O. Seite 161
[6] a. a. O. Seite 12
[7] a. a. O. Seite 57
[8] Heute wissen wir dass die Wahrheit noch erstaunlicher ist, als man glauben könnte und überaus paradox ist: Wir hören besser als unsere Ohren von der physiologischen Leistung her zulassen würden.
[9] a. a. O. Seite 4