Manfred Clynes sentische Formen

Eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der zeitgenössischen Musikästhetik ist der australische Forscher Manfred Clynes, der in der Presse abwechslungsweise als Luftfahrtingenieur, Philosoph, Mediziner, Neurowissenschaftler, Mathematiker oder Konzertpianist bezeichnet wird und dies auch alles ist. Als Musiker mit einer Ausbildung an der renommierten Juilliard School zählt er Pablo Casals und Edwin Fischer zu seinen Lehrern. Als Neurowissenschaftler erfindet er einen CAT-Computer (Computer of Average Transients), um die Reaktion des Hirns auf verschiedene Stimuli zu messen. Er bleibt jahrzehntelang ein Standardmessgerät in den Labors der Welt.

In der breiten Öffentlichkeit ist in den Anfängen des Internetzeitalters eine Wortneuschöpfung berühmt-berüchtigt geworden, die Clynes schon 1960 in die Raumfahrtdiskussion geworfen hat: der «Cyborg» (von «Cybernetic Organism»). Man versteht darunter eine Synthese aus Mensch und Technik. In noch heute fantastisch anmutenden Spekulationen hat Clynes (zusammen mit seinem ebenfalls australischen Kollegen Nathan Kline) das Bild eines durch Drogen und chirurgische Eingriffe für das Leben im Weltraum angepassten Astronauten entworfen. Später ist der Begriff zu einem Kampfmittel einer postmodernen Kultur geworden, die den technisch designten Mitbürger als eine nonkonforme gesellschaftliche Minderheit sieht, etwa wie Drogenkonsumenten, schwule Subkultur oder Künstlergesellschaften.

Für die musikalische Bedeutungslehre interessant sind Clynes’ Beiträge zu dem, was er «Sentics» nennt, und für dessen Präsentation er 1968 auf wissenschaftlichen Kongressen buchstäblich ausgelacht worden ist. Clynes’ Grundthese lautet: Der Ausdruck menschlicher Emotionen hat eine feste, biologisch begründete dynamische Form. Die Form lässt sich experimentell nachweisen und ist auch unabhängig von kulturellen Prägungen. Sie ist überdies wohldefiniert und klar abgegrenzt – sogar präziser als die Wörter, mit denen wir sie umschreiben. Am ehesten kann man sie mit festverdrahteten Programmen vergleichen, die automatisch ablaufen, wenn sie einmal angestossen worden sind.

Die Theorie der sentischen Formen lässt Clynes eine verblüffend simple, mechanistisch anmutende Theorie des seelische Ausdrucks in der Musik entwerfen: Wenn es einem Interpreten oder auch einem Computer gelingt, die sentischen Formen in der Musik möglichst exakt nachzuvollziehen, dann gelingt ihm laut Clynes der perfekte Ausdruck. Man muss das wörtlich nehmen; Clynes ist überzeugt, dass es so etwas wie eine biologisch exakte Reproduktion der sentischen Formen und damit auch ein Kriterium für eine «korrekte» Reproduktion des musikalischen Ausdrucks gibt. Wenn ein Interpret einzelne Töne oder Phrasen den sentischen Formen entsprechend genau wiedergibt, dann wirkt die Musik lebendig und die Interpretation stimmig. Im radikalsten Fall kann dies zu einer mechanisierten Art der Beurteilung von Interpretationen führen: Zum ersten werden die in der Musk kodierten sentischen Formen identifizert, zum zweiten wird geprüft, ob sie der Interpret dem biologischen Modell gemäss exakt reproduziert. Ist dies gelungen, dann ist die ideale, prefekte Interpretation erreicht worden.

Clynes illustriert diese Überzeugung mit einem allen Musikern bekannten Phänomen:

Vor einigen Jahren gab der Meister Pablo Casals in seinem Haus in Puerto Rico Meisterkurse für Cello. Bei dieser Gelegenheit spielte ein hervorragender Teilnehmer das Thema des dritten Satzes des Cellokonzertes von Haydn, ein anmutiges und freudiges Thema. Wir, die wir dort waren, konnten nicht anders als die Grazie zu bewundern, mit der der junge Meistercellist spielte.

Casals lauschte aufmerksam. «Nein», sagte er und winkte mit der Hand – eine seiner vertrauten eindeutigen Gesten –, «das muss anmutig sein!» Und dann spielte er die gleichen wenigen Striche – und es war, als ob man noch nie zuvor Anmut gehört hätte, so anmutig, dass der Zynismus in den Herzen der Menschen, die da sassen und lauschten, dahinschmolz. Diese einzelne Phrasierung durchdrang alle Abwehrhaltungen, die Rüstung, die Verhärtung des Herzens, die wir meist mit uns tragen, und verwandelte uns mit seiner Kraft in Menschen, die sich freuten, am Leben zu sein.

Was war das für ein Kraft, die das bewirkt? Eine kleine Differenz zwischen der Phrasierung Casals und der des jungen Mannes. Eine kleine Differenz – aber eine enorme Differenz im Hinblick auf die kommunikative Kraft, den Zauber und die verwandelnde Wirkung.[1]

Die Theorie von Clynes tönt für traditionell geschulte Musiker reichlich provokativ und «unmusikalisch». Im Gegensatz zum Rechnen, Planen und Verarbeiten von Informationen, so die gängige Meinung, ist der seelische Haushalt des mit Bewusstsein begabten Menschen ein viel zu komplexes und tiefgründiges Phänomen, als dass es eine Maschine je nachzuvollziehen imstande sein wird. Emotionen werden als tiefsinnig, vielschichtig und letztlich unauslotbar betrachtet.

Clynes macht beim Herumspielen mit dem CAT-Computer die Entdeckung, dass alle Menschen auf bestimmte Farben mit den immer gleichen, vorhersagbaren Hirnmustern reagieren. Das bringt ihn auf die Idee, ein Messgerät zu konstruieren, mit dem innere geistige Zustände registriert werden können, und zwar über den Umweg von Fingerdruckmustern. Das Resultat ist ein Kästchen mit dem Namen «Sentograph», das genau registriert, wie eine Versuchsperson unterschiedliche Reize in Fingerdruckmuster übersetzt.

Schliesslich geht Clynes einen Schritt weiter. Er stellt die Vermutung auf, dass konkrete Gefühle mit ganz bestimmten Druckmustern mit einer Dauer zwischen einer und zehn Sekunden korreliert sind. Diese werden nicht über symbolische Wege, sondern direkt über das zentrale Nervensystem, also ohne Vermittlung von kognitiven Prozessen, wahrgenommen.

Um seine Vermutung zu belegen, macht Clynes sich mit dem Sentographen auf, um in den unterschiedlichsten Kulturräumen – Mexiko, Japan und Bali – auf die Jagd nach universalen Emotionsmustern zu gehen. Dabei wird er (zumindest seiner eigenen Überzeugung nach) fündig – die Versuche scheinen zu bestätigen, dass die sentischen Formen von kulturellen Bedingungen unabhängig sind.

1977 formuliert Clynes die Merkmale der Kommunikation emotionaler Inhalte (sentischer Zustände) mit Hilfe sentischer Formen mit folgenden Kennzeichungen:

  • Ausschliesslichkeit: Die Kommunikation von sentischen Zuständen ist ein Einkanal-Verfahren, das heisst, es kann nur eine Emotion auf einmal kommuniziert werden.
  • Gleichwertigkeitsprinzip: Zum Ausdruck eines sentischen Zustandes gibt es mehrere gleichwertige motorische Äusserungen.
  • Kohärenz: Der dynamische Ausdruck eines sentischen Zustandes wird von einem Hirnprogramm oder -algorithmus gesteuert, das «essentische Form» genannt werden soll. Es existiert eine angeborene Kohärenz von essentischer Form und der Emotion, die mit ihrer Hilfe Ausdruck sucht.
  • Komplementarität: Erzeugen und Erkennen essentischer Formen wird von einem datenverarbeitenden Programm des Zentralen Nervensystems gesteuert und biologisch koordiniert, so dass eine präzise produzierte essentische Form entsprechend verstanden wird. Die erkannte Form erzeugt im Betrachter den entsprechenden sentischen Zustand.
  • Selbsterzeugung: Die Intensität sentischer Zustände wird innerhalb bestimmter Grenzen von arhythmisch wiederholten Erzeugungen der sentischen Form verstärkt. (Man steigert sich in etwas hinein…)
  • Verallgemeinerte Emotionen: Sentische Zustände können als reine Qualitäten oder Identitäten erlebt werden, ohne dass sie auf bestimmte Ursachen zurückgeführt werden müssten (das heisst, man kann Freude oder Traurigkeit in der Musik erleben, ohne dass ein konkreter Grund im gegenwärtigen Leben dazu vorhanden sein müsste).
  • Kommunikatives Vermögen als Funktion der Formtreue: Das Vermögen der sentischen Formen, sentische Zustände zu erzeugen, wächst in dem Masse, in dem die Formen einer idealisierten Form nahekommen.

Clynes machte sich auch auf, die ganz konkreten sentischen Formen zu entschlüsseln, die einigen fundamentalen menschlichen Emotionen zugeordnet sind. In Selbstversuchen entwirft er Sentogramme für Zorn, Hass, Kummer, Liebe, Sexuelles Begehren, Freude und Erfurcht, die etwa folgendermassen gezeichnet werden können:

Horizontale und vertikale
Komponenten sentischer Formen

Die obere Kurve zeichnet den Verlauf der vertikalen Komponente des Fingerdrucks nach, die untere die horizontale. Zorn kann also etwa als ein heftiges zweifaches Drücken in beide Richtungen charakterisiert werden, Kummer als kurzer anfänglicher Ausbruch und langsames Entspannen. Die Bewegungen sind alle intuitiv plausibel. Im Grunde genommen erweitern sie einfach ein Repertoire an unmittelbar erkannten emotionalen Ausdrucksformen, die allgemein bekannt sind, etwa Lachen oder Erschrecken.

Clynes hofft, auf Basis der sentischen Formen eine Kommunikation zwischen Menschen und Computern definieren zu können, die sich nicht mehr maschinell-mechanisch anfühlt, sondern dem Menschen den Eindruck gibt, mit einem empfindsamen Wesen zu kommunizieren, wenn er mit einem Computer in Berührung kommt. Dabei geht er so weit, im Geist Computer zu entwerfen, die je nach menschlichem Gesprächspartner ein individuelles Charakterprofil – sozusagen vordefinierte Nutzervoreinstellungen – besitzen, um möglichst verständnisvoll zu wirken.

Mit diesen Mustern konfrontiert Clynes zahlreiche Versuchspersonen – hauptsächlich Studenten und Angestellte australischer Universitäten –, die sie alle mit hoher Sicherheit eindeutig zuordnen; einzig Liebe und Ehrfurcht werden ab und zu verwechselt. Um zu sehen, ob das Wiedererkennen kulturell abhängig ist, macht Clynes das gleiche Experiment mit australischen Ureinwohnern, die mit der weissen Zivilisation noch kaum in Berührung gekommen waren. Auch sie ordnen die Muster mit hoher Sicherheit korrekt zu.

In der Musik glaubt Clynes eine weitere Art von typischer «Signatur» festgestellt zu haben, die er «innern Puls» nennt und die sich nicht zuletzt an die Experimente und Beobachtungen des deutschen Musikwissenschaftlers Gustav Beckings anlehnen.

Er erinnert sich daran, dass Becking Musiker gerne dazu aufforderte, Kompositionen mit dem Zeigefinger dirigierend zu bewegen. Dabei machte er die Feststellung, dass die Begleitbewegungen für einzelne Komponisten immer ähnlich ausfallen. Die Idee Beckings überträgt Clynes auf den Sentographen. Bei einem ersten Selbstversuch konfontiert er sich mit Musik von Beethoven, Schubert und Mozart. Deren Stile scheint er auch tatsächlich mit charakteristischen Druckmustern zum Ausdruck zu bringen.

Neugierig geworden überredet er den Pianisten Rudolf Serkin zum gleichen Experiment. Serkin nimmt die Sache eher von der humoristischen Seite und denkt an Mozart, wenn ihn Clynes auffordert, an Beethoven zu denken. Mit Hilfe des Sentographen entlarvt Clynes den Betrug zur grössten Verblüffung Serkins jedoch. Die folgenden ernsthaften Testreihen zeigten, dass Serkin zu den einzelnen Stilen die selben Druckmuster erzeugt wie Clynes. Auch Pablo Casals, der nun wirklich nicht im Verdacht des emotionalen Einfaltspinsels steht, produziert am Sentographen die gleichen Resultate. Damit ist die Hypothese geboren, dass Druckmuster und musikalischer Ausdruck in den gleichen Hirnfunktionen ihren Ursprung haben müssen.

Der innere Puls – Neudeutsch könnte man das heute «Groove» nennen – ist eine Art rhythmischer Fingerabdruck des Komponisten, der sich in seinen Werken ständig wiederholt und seine einzigartige Faszination ausmacht. Man kann ihn auch als die Leinwand sehen, auf die der Komponist seine Werke malt:

Der innere Puls besteht aus einem Wechsel zweier Phasen, die wir als Aktiv- und Ruhephasen bezeichnen können. Wichtig dabei ist, dass aus der sentischen Aufladung des inneren Pulses eine spezifische Form desselben resultiert. Der Puls bekommt seine Gestalt sozusagen durch die Handschrift des Komponisten. Sie ist aber nicht nur wie seine Unterschrift; sie ist auch eine sentische Matrix, die seine persönliche Sichtweise oder Identität repräsentiert. Wir fühlen sie als «Präsenz» oder «persönliche Ausstrahlung» des Komponisten. Ohne sie mag ein Musikstück «korrekt» wiedergegeben sein, es vermittelt jedoch nicht die unmittelbare, intime Erfahrung der Ausstrahlung des Komponisten. Der innere Puls ist ein Schlüssel zur Empathie, zum Einfühlen in den Komponisten. Durch sie können wir den Komponisten auch als Menschen liebgewinnen.[2]

Clynes schätzt, dass die von einer tatsächlichen Aufführung einer Komposition übermittelte Information nur zu einem kleineren Teil von der Partitur des Stückes bestimmt ist. In die Sprache der Informationstheorie gekleidet erklärt er: 10 Bit Information pro Note steuert die Partitur bei, 17 Bit der Interpret. Den Anteil des Interpreten nennt Clynes die Mikropartitur. Sie bestimmt die feinen Strukturierungen, die von der relativ groben Notation nicht erfasst werden können. Dazu gehören die exakte Lautstärke einer Note, die exakte Dauer, die Crescendi, Diminuendi, Verzögerungen und Beschleunigungen und die Vibrati und Lautstärke-Hüllkurven, mit denen eine Note zum Leben erweckt wird.

Alle diese zusätzlichen Informationen können in fünf Bereiche eingeteilt werden: Lautheit (Loudness), Abweichungen von der notationsmässig festgelegten Dauer, Lautstärken-Hüllkurve, Klangfarbenveränderungen innerhalb einer Note und die Gestaltung des Vibratos.

Clynes hat es nicht bei theoretischen Überlegungen belassen. Er hat eine kommerziell erhältliche Software geschrieben, die sich «Superconductor» nennt und die Befunde in die Praxis umzusetzen behauptet. Dabei werden klassische Werke auf Basis von Instrumentensamples und einem MIDI-Sequencer zum Erklingen gebracht. Superconductor geht aber eben über das reine Umsetzen der Partitur in MIDI-Spuren hinaus. Dem Resultat wird zum einen der für den Komponisten passende Puls unterlegt. Verschiedene Algorithmen formen zudem die sensiblen Parameter, vor allem die Lautstärkenhüllkurve gemäss der Idee der sentischen Formen. Clynes behauptet etwas unbescheiden, damit im Grunde genommen das interpretatorische Ei des Kolumbus gefunden zu haben, denn der Superconductor müsste frei von motorischem Ungenügen und Konzentrationsschwächen die sentischen Formen ja eigentlich perfekt umsetzen. Der Besitzer der Software kann mit verschiedenen Einstellungen und dem Feintuning experimentieren und so selber zum Interpreten werden, ohne ein Instrument beherrschen zu müssen. Die Idee hat etwas Bestechendes. Ob dies alles auch gelingt, mag jeder für sich entscheiden. In eigenen Experimenten mit Superconductor sind wir zum Schluss gekommen, dass der Puls in den von Clynes eigenhändig erstellten Interpretationen überbetont ist und mit der Zeit zu nerven beginnt. Dies scheint daran zu liegen, dass das Konzept trotz allem allzu mechanisch angewendet wird. Clynes gibt sich bei der Kodierung von Beispielen aber auch nicht unbedingt mit Nebensächlichkeiten ab. Eines seiner grössern Projekte sind gerade mal die späten Beethoven-Quartette. Auf der andern Seite sind die Resultate verblüffend, und man hat den Eindruck, dass Clynes auf einer richtigen Spur ist.

Einer der ersten, der Clynes’ Ideen in Schutz nimmt, ist Marvin Minksy, der Grand Old Man der Künstlichen Intelligenz (KI). Minsky ist wie Clynes ein dezidierter und lustvoller Querdenker und seine Bemühungen darum, dem Computer neben dem Denken auch das Fühlen beizubringen, werden von den zeitgenössischen Kommentatoren mit viel Skepsis begleitet. Im Laufe seiner lebenslangen Forschertätigkeit ist Minsky jedoch zum provokativen Schluss gekommen, dass das emotionale Universum des Menschen im Grunde genommen sehr einfach gestrickt ist und dass es eben gerade die intellektuellen Leistungen sind, welche die Vielschichtigkeit und Unauslotbarkeit der menschlichen Existenz ausmachen. Sie sind denn im Gegensatz zu emotionalen Reaktionen auch äusserst schwierig in Computermodelle zu bringen.[3]

Gegen alle Formen der «wissenschaftlichen» Schubladisierung von Gefühlen herrscht jedoch nach wie vor eine gesunde Skepsis. Zu oft wurde eine solche als unlauteres Mittel verwendet, um Menschen in untaugliche Schemata zu pressen oder sie gar politisch oder sozial auszugrenzen. Manfred Clynes gehört kaum in eine derartiges Umfeld, schon nur, weil er sich mit seinen Theorien für viele selber ins Out gestellt hat. Andererseits ist er selber in einem traditionellen Musikverständnis befangen, das den interessanten Teil des Phänomens Musik auf die europäische Kunstmusik zwischen Gregorianik und Tonalität des 20. Jahrhunderts einengt.

Ob man die praktischen Resultate Clynes’ und seine Klassifikationen überzeugend findet oder nicht, ist aber gar nicht entscheidend. Die experimentellen Befunde sind ein ernstzunehmender Versuch, über das Verdikt von Hanslick hinauszukommen und das Unternehmen Cooke bis zu einem gewissen Grad auf eine experimentelle Basis zu stellen: Statt sich auf «dynamische Formen» zu beschränken, die für die unterschiedlichsten Gefühlsausdrücke einsetzbar sind, werden Bewegungsmuster mit konkreten Emotionen in Verbindung gebracht. Möglich wird dies durch eine physiologisch-psychologische Rahmentheorie, die vielleicht in ihren konkreten Befunden noch nicht wirklich überzeugend ist, aber möglicherweise die Türe zu einem tieferen Verständnis der Zusammenhänge zwischen Emotionen, Expressivität und musikalischem Erleben öffnen kann.

Es ist aber auch wichtig zu sehen, dass die Musik dadurch nicht zu einer Sprache der Gefühle wird. Clynes sieht nämlich keine Mechanismen vor, um einzelne Bewegungsmuster zu komplexeren Aussagen zu kombinieren. Man kann höchstens, wenn man dies will, gewisse Parallelen zu den Theorien Leonard Meyers sehen, wenn Clynes anmerkt, dass die Aneinanderreihung oder das Wiederholen von sentischen Formen gewisse Erwartungen weckt, die zum Zwecke von Verblüffungseffekten auch gezielt enttäuscht werden können. Und dennoch: Auch wenn Clynes einen Ansatz zur Erklärung liefert, dass Musik konkrete Gefühle zum Ausdruck bringen kann, entfernt er sich doch nicht allzu weit von Hanslick. Denn der Akzent liegt auch bei Clynes nicht auf dem Mitteilen einer konkreten Emotion, sondern auf dem Formenspiel, das uns als solches rührt, nur dass die formalisierten Basisemotionen eben einen Teil der Formen ausmachen.

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[1] Manfred Clynes, The touch of the emotions, Doubleday, 1977, dt. Übersetzung von Frank-Michael Hohler: Auf den Spuren der Emotionen, Verlag für angewandte Kinesiologie, Freiburg 1996, Seite 104

[2] a.a.O., Seite 135

[3]Wie vorhersehbar und simpel Menschen auf scheinbar emotionale Komponenten in einem Computerprogramm reagieren, muss zu den Pionierzeiten der künstlichen Intelligenz auch der MIT-Informatiker Joseph Weizenbaum erfahren. Der Computerwissenschaftler schreibt ein Programm, das er aus purem Jux mit einem einfachen psychoanalytischen Dialog versieht. Der «Patient» erzählt aus seinem Leben und das Programm antwortet mit Paraphrasen oder banalen Floskeln wie «Erzählen sie mehr!», oder «mmh, ich verstehe…». Erschreckt stellt Weizenbaum fest, dass seine Mitarbeiter dem Programm ihre Ängste und Freuden anvertrauen und damit auch nicht aufhören, nachdem er sie über die Sache aufgeklärt hat. Weizenbaum zieht aus seinen Erfahrungen andere Konsequenzen als Minsky. Anstatt zum Schluss zu kommen, dass das Seelenleben des Menschen im Grunde genommen einfachen mechanischen Gesetzen gehorcht, sieht er die menschliche Würde durch den Computer bedroht und wird einer der prominentesten Kritiker der KI-Gemeinde.