Die physikalischen Rahmenbedingungen

Die Frage des Voyager-Projektes, ob die Menschheit und eine ausserirdische Kultur sich via Musik austauschen könnten, öffnet den Blick auf einige äusserst interessante Grundsatzüberlegungen, weil eine allgemeine Charakterisierung von Musik für jeden nur vorstellbaren Typ von Hörer gefunden werden muss. Von dem möglichen Hörer kann man nicht einmal annehmen, dass er über ähnliche Sinnesorgane wie wir Menschen verfügt.

Die Gedanken, die er sich dazu gemacht hat, stellt der universal interessierte deutsche Physiker und SETI-Experte (Search for Extraterrestrial Intelligence) Sebastian von Hoerner schon vor dem Voyager-Projekt vor – an einer Konferenz, die 1973 im österreichischen Ossiach über die Bühne geht. Hoerner wirft einen Blick auf die physiologischen Rahmenbedingungen des Musikverstehens und Musikproduzierens.[1] Seine Gedanken kreisen zudem um ein paar verblüffende Überlegungen zur Frage nach dem Tonsystem, die sich ganz unabhängig von der konkreten Beschaffenheit eines Lebewesens ergeben.

Dass ein Organismus irgend etwas haben muss, was unseren Ohren entspricht, das heisst, dass er in der Lage ist, Schallwellen differenziert wahrzunehmen, ist für Hoerner eine Selbstverständlichkeit. Die Ohren gehorchen laut Hoerner fünf Rahmenbedingungen:

Erstens: Ein derartiges Organ muss über eine eingebaute Frequenzanalyse verfügen. Hoerner vergleicht das menschliche Ohr mit dem menschlichen Auge. Dieses ist bloss in der Lage, etwa eine «Oktave» an Lichtwellen zu verarbeiten und kennt überdies nicht wie das Ohr eine Kanaltrennung: Gelb und Rot mischt es zu Orange. In dieser Hinsicht ist das Ohr wesentlich subtiler als das Auge. Es kann Klangereignisse über neun Oktaven erfassen und leicht im Bereich von etwa einem Halbton auseinanderliegende Frequenzen getrennt wahrnehmen. Das bedeutet, dass das menschliche Ohr rund vierzig getrennte Kanäle der Tonhöhenwahrnehmung hat. Im Grunde genommen kann es aber sogar feinste Tonunterschiede in bis zu 40 000 Kanälen wahrnehmen. Um Melodien zu hören, reichen etwa 30 000 Kanäle. Man kann laut Hoerner davon ausgehen, dass ein derart verfeinertes Ohr einen wichtigen Überlebensvorteil sichert und dass es deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei ausserirdischen Lebewesen vorhanden sein dürfte.

Dazu gibt es wenig Einwände, wenn man annimmt, dass gutes Hören vor allem bedeutet, mögliche Feinde frühzeitig zu erkennen. Eine derartige Aufgabe wird am besten über eine Frequenzanalyse bewerkstelligt, die es erlaubt, die Geräusche des Feindes von andern Umweltgeräuschen sauber zu unterscheiden. Allerdings macht Hoerner in Bezug auf Musik eine unbewiesene Voraussetzung, nämlich die, dass die künstlerische oder sonstwie bewusste Organisation des Hörraumes in Form von Melodien und Harmonien gemacht wird. Auch die Frage des Frequenzbereiches, den ein Lebewesen erfassen kann, bleibt offen. Es ist prinzipiell vorstellbar, dass ein Organismus Frequenzen über 20’000 Hertz sauber wahrnimmt (wie dies etwa beim Hund der Fall ist). Die Musik eines solchen Volkes von Ausserirdischen wäre für uns gar nicht hörbar.

Zweitens: Um unsere Musik nachvollziehen zu können, muss der Ausserirdische die Frequenzen auf einer logarithmischen Skala wahrnehmen, wie wir dies auch tun. Auch hier öffnet sich die Möglichkeit, dass ausseriridische «Musik» für uns unverständlich organisiert sein könnte, nämlich auf der Basis absoluter Frequenzverhältnisse.

Drittens sollte so etwas wie nicht-lineares Koppeln vorhanden sein. Dies sorgt dafür, dass wir zwei Töne und ihre Obertonreihen auseinanderhalten können, anstatt dass wir aus der Frequenzdifferenz einen neuen Ton mixen.

Viertens scheint es von Bedeutung zu sein, den Obertonmix von Klängen in Form der Klangfarbe als eigenständige Tonqualität wahrzunehmen. Evolutionsbiologisch dürfte es laut Hoerner für einen Menschen sinnvoll sein, das Brüllen eines Löwen sofort als solches zu identifizieren, ohne zunächst Obertöne auszählen zu müssen. Ebenso ist es sinnvoll, unterscheiden zu können, ob nun einer oder mehrere Löwen im Anmarsch sind.

Fünftens: Mit dieser Bedingung begibt sich von Hoerner aufs Glatteis. Ein Lebewesen muss Musik auch als solche zu schätzen wissen, um sie tatsächlich zu produzieren, meint er. Mit dem Bau der Ohren hat dies nun kaum mehr etwas zu tun. Der Gedanke ist allerdings interessant: Menschen schätzen Musik, weil sie ihnen auf irgendeine Art Vergnügen bereitet und in irgendeiner Verbindung zu ihrem Gefühlsleben zu stehen scheint. Man weiss andererseits zum Beispiel von Autisten, dass ihnen ein solcher Sinn völlig abgehen kann. Da ist zum Beispiel die Fallgeschichte der berühmten, hochintelligenten und autistischen Ingenieurin Temple Grandin, welche der Neurologe Oliver Sacks in seinem Band «Eine Anthropologin auf dem Mars» erzählt[2]. Temple, die über das absolute Gehör verfügt, erklärt, dass sie Musik nicht versteht und diese in ihr auch nichts auslöst.

Dies führt zum Schluss, dass selbst wenn eine ausserdische Zivilisation aufgrund der Beschaffenheit ihrer Hörorgane in der Lage ist, unsere Musik adäquat wahrzunehmen, dies noch lange nicht heisst, dass sie deren «Botschaft» versteht, respektive, dass sie überhaupt gewahr wird, dass eine Botschaft vorliegt. Ausserirdische könnten mit irdischen Autisten mehr gemeinsam haben als mit normalen Menschen. Ebenso ist es möglich, dass wir ausserirdische Musik als solche gar nicht wahrnehmen würden, weil sie uns nichts bedeuten würde.

In der Folge jedoch stellt von Hoerner einige interessante Überlegungen zur Universalität unseres Tonsystems an: Ist ein System mit einer Unterteilung der Oktave in zwölf Halbtöne ein Produkt der Willkür? Ist es durch die Fähigkeit des menschlichen Ohres vorgegeben, Halbtöne gut unterscheiden zu können oder folgt es prinzipiellen strukturellen Gründen? Man könnte vor allem vermuten, dass es wesentlich feinere Unterteilungen der Oktave wie Fünfteltone, Siebteltöne oder gar Zweihundertsteltöne geben könnte, die ein entsprechend fein gebautes Ohr wahrnehmen könnte.

Der Ausgangspunkt zu Überlegungen, welche Tonleitersysteme sich aus physikalischen Gründen anbieten, sind laut von Hoerner zwei: Erstens muss eine «natürliche» Einheit in gleichmässige Schritte unterteilt werden.[3] Die zweite Voraussetzung ist, dass die Tonschritte des Systems beim Zusammenklingen möglichst viele Obertöne gemeinsam haben, um harmonische Systeme konstruieren und eine reichhaltige Klangfarbenpalette generieren zu können.

Das Interessante: Theoretisch gesehen sind diese beiden Bedingungen unvereinbar. Unsere temperierte Zwölftonskala bedeutet mathematisch gesehen etwa eine Unterteilung der Oktave in Bruchteile von √2. Da √2 eine irrationale Zahl ist, lassen sich keine einfachen Teiler finden, um Obertonspektren zu vereinen. Wie man bei unserer eigenen temperierten Skala hört, verhalten sich annähernd einfache Verhältnisse entsprechender Teilungen praktisch wie vollständig solchen Teilungen entsprechende. Die temperierte Quinte wird genauso zum Mitklingen angeregt wie die reine Quinte. Man kann die Definition einer chromatischen Tonleiter deshalb tolerant gestalten:

Definition eines Tonleitersystems: Eine Teilung der Oktave in gleich grosse Teile, die auch annähernd harmonische Teilungen erzeugt.

Die Frage ist nun, wie viele Obertöne in das Obertonspektrum eingebunden werden müssen. Der Knackpunkt dabei: Mit dem Oberton müssen auch alle zu ihm gehörigen Verhältnisse ein im Tonsystem vorhandenes Intervall repräsentieren. Verlangt man also, dass bloss die Oktave (Oberton 2) repräsentiert wird, so müssen auch bloss die Verhältnisse 1:2, 1:4, 1:8 und so weiter repräsentiert werden. Verlangt man, dass die Quinte im Obertonspektrum vorhanden ist, so kommt das Verhältnis 2:3 hinzu.

Eine Tabelle aller Verhältnisse, die von einer Anzahl Obertöne repräsentiert werden müssen, sieht folgendermassen aus (es finden sich nur solche Verhältnisse darin, die sich nicht auf andere zurückführen lassen):

 

P = Primzahl, bis zu der alle Obertöne repräsentiert sind, M = Anzahl der Verhältnisse, die repräsentiert werden.

Man kann sich überdies fragen, wie man «annähernd» in der Definition des Tonleitersystems quantitativ ausdrücken könnte. Wie gross kann die Abweichung vom theoretischen Idealwert sein?

Von Hoerner benutzt dazu eine Verallgemeinerung des Cent-Systems. Mit der Einheit Cents werden in der Musikwissenschaft Intervalle für feine Messungen unterteilt. In unserem Zwölftonsystem entspricht ein Halbton 100 Cent, eine Oktave macht dementsprechend 1200 Cent aus.

Die Verallgemeinerung: Für beliebige Unterteilungen der Oktave soll ein Tonschritt 100 Cent messen. Ein Oktave umfasst dann N mal 100 Cent. Eine Abweichung von einer Tonstufe kann überdies maximal 50 Cent betragen, bis sie näher bei der nächsten Tonstufe ist. Mit einigen theoretischen Überlegungen kommt von Hoerner zum Schluss, dass es sinnvoll ist, den Abstand einer Abweichung von einem Ton auf etwa maximal 20 Cent zu beschränken, damit die einzelnen Tonstufen gut unterscheidbar bleiben und auch genug von den erzeugten Obertonverhältnissen in eine wünschbare Nähe eines Tones der Tonskala fallen.

In andern Worten: Die Abweichung soll so gewählt werden, dass die von tieferen Tönen erzeugten harmonischen Obertöne möglichst in die Nähe von höheren Tönen der Tonskala fallen und damit ein reiches Resonanzspektrum erzeugen.

Nachdem von Hoerner ein Computerprogramm laufen liess, um zu sehen, was bei der Wahl aller Paare aus Oktavunterteilungen und Anzahl berücksichtigter Obertöne herausschaut, macht er zwei interessante Feststellungen. Zum ersten fallen immer weniger Obertöne in die Nähe von Tönen der Skala, je feiner die Oktavunterteilung gewählt wird. Das heisst, dass zum Beispiel ein System mit Zweihundertsteltönen nicht nur extreme Anforderungen an das Differenzierungsvermögens der Frequenzanalyse in einem Hörorgan stellen würde. Die damit erzeugte Musik bestünde überdies aus Tönen, die sich gegenseitig nicht anregen würden und damit kein rechtes Obertonspektrum hätten.

Tatsächlich ist es so, dass das Verhältnis von Oktavunterteilung und Obertonfülle eigentlich bloss für drei Fälle vorliegt: ein Fünftonsystem mit drei berücksichtigten Obertönen, ein Zwölftonsystem (unser Tonsystem) mit fünf berücksichtigten Obertönen und ein Einundreissigtonsystem mit sieben berücksichtigten Obertönen.

Von Hoerner geht über die Herleitung der «guten» Skalensysteme hinaus und versucht nachzuweisen, dass auch das Dur/Moll-System universale Charakteristiken hat. Im Grossen und Ganzen verwendet er als Beleg im Prinzip dieselbe Strategie wie Riemann, ohne allerdings von «Untertönen» zu sprechen: Der Dur-Akkord ergibt sich aus den ersten sechs Obertönen, das heisst aus der Multiplikation der Grundfrequenz mit 2, 3, 4, 5 und 6. Die daraus entstehenden Elemente (auf eine Oktave zusammengezogen – was Hoerner allerdings nicht erwähnt ) ergeben den bekannten Durakkord. Der Mollakkord wird durch das analoge Verfahren erzeugt, indem statt der Multiplikation die Division gewählt wird. Weil die Eigenschaft der Tonhöhe bloss zwei Richtungen besitzt, ergeben sich daraus genau zwei Akkordformen, welche die Bedingung erfüllen, dass ihre Töne sich auch im Obertonspektrum finden. Im Fall der Fünftonleiter machen die beiden Verfahren keinen Unterschied, das heisst, diese verfügt bloss über ein einziges Tongeschlecht. Die Einunddreissigton-Leiter weist demnach auch zwei Tongeschlechter auf. Der siebente Oberton wird dabei mitgerechnet, die Obertöne 8, 9 und 10 ergeben Oktavierungen bereits vorhandener Töne, und der elfte Oberton wird ausgelassen).

Von Hoerners Spekulationen sind hochinteressant, aber auch nicht gegen Einwände gefeit: Die wichtigste implizite Voraussetzung, die er macht ist, dass das Verschmelzen der Obertöne ein wünschbarer Effekt ist. Zum einen kann dies so sein, weil es für ein Lebewesen angenehm wirkt, was immer man unter «angenehm» verstehen will. Zum zweiten erlaubt die Obertonhierarchie die Etablierung hierarchischer Strukturen.

Die erste Voraussetzug für ausserirdische Wesen zu machen, würde bedeuten, ihnen ein dem unseren vergleichbares emotionales Innenleben zuzuschreiben. Dies ist alles andere als trivial. Plausibel wird dies erst, wenn man wiederum annimmt, dass die Evolution auf andern Planeten sich etwa gleich gestaltet wie die terrestrische, dass also die Geschichte der Evolution universal ist. Man kann argumentieren, dass unter ähnlichen Bedingungen wie Sauerstoffkreislauf und so weiter sich ähnliche Strukturen – geschlechtliche Fortpflanzung und Nahrungsketten – herausgebildet haben. Es ist aber durchaus denkbar, dass ein Lebewesen, das sich nicht geschlechtlich fortbildet und Jagen und Gejagtwerden nicht kennt, eine von der unseren vollkommen unterschiedliche emotionale Struktur hat, wenn es denn überhaupt eine solche besitzt. Liebe und Gefahr sind nämlich die grundlegendsten emotionalen Erfahrungen des Menschen. Erst die Nahrungskette macht Schuberts «Forellenquintett» zum emotionalen Erlebnis.

Auch die zweite Voraussetzung ist nicht trivial: Komplexe musikalische Strukturen lassen sich auch ohne das Hierarchiemodell der Obertöne denken. In Frage kommen könnten zum Beispiel gruppentheoretische Strukturen, wenn man die Obertöne, die eigentlich die interessantesten wären, nämlich die Primzahlen 7 und 11, nicht einfach aus der Konstruktion der Tonleiter ausklammert. Man könnte sich auch vorstellen, dass ein Hörorgan über Lautstärkeband-Analysatoren verfügt und eine zur Tonhöhenleiter analoge «Lautstärkenleiter» etablieren könnte, was auch immer die biologische Motivation dafür sein könnte.

Von Hoerner zeigt sich als Skeptiker im besten Sinn und schliesst andere als die physikalisch «natürlichsten» Systeme mit einer Fünf-, Zwölf- oder Einunddreissigtonleiter und höchstens zwei Tongeschlechtern als Basis übrigens nicht aus. Er glaubt bloss, dass es so scheint, wie wenn «einige unserer grundlegenden musikalischen Prinzipien universal genug sind, um an andern Orten zu einem guten Teil erwartet zu werden». Die impliziten Voraussetzungen dürften gezeigt haben, dass die Erwartungen in dieser Hinsicht wohl eher noch mehr heruntergeschraubt werden müssen.

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[1] Sebastian von Hoerner, «Universal Music?», Vortrag an der Konferenz «Physical and Neurological Foundations of Music», Ossiach, Österreich, August 1973, abgedruckt in: Psychology of Music, Vol. 2(1974), Seiten 18-23

[2] Oliver Sacks, Eine Anthropologin auf dem Mars, dt. 1997 als Rowohlt-Taschenbuch erschienen, Original: Oliver Sacks, An Anthropologist on Mars: Seven Paradoxical Tales,Vintage Books, 1995

[3] Eigentlich handelt es sich dabei um zwei, wenn nicht gar drei Voraussetzungen: Eine versteckte Bedingung ist, dass eine Zivilisation ein Intervall als Wiederholung eines andern ansieht, wie wir Menschen dies mit der Oktave tun, die offenbar tatsächlich in allen bekannten Kulturen als ein Grundton angesehen wird. Die zweite versteckte Voraussetzung ist, dass ein sich periodisch über das logarithmische Frequenzband wiederholendes Tonleiterstück als Ausgangsmaterial gewählt wird. Die Tonleitern wiederum basieren auf einer gleichmässigen Unterteilung des Basisintervalls in Tonschritte. Auf der Erde sind solche mit fünf und sieben gleichmässigen Schritten bekannt, benutzt in der Gamelanmusik auf Java und Bali und in südafrikanischen Kulturen. Die zwölffache Unterteilung ist von der chromatischen Leiter der abendländischen Tonkunst her bekannt. In Indien findet sich überdies eine Unterteilung in 22 gleiche Tonschritte, was einer Vierteltonreihe nahekommt. Theoretisch sind natürlich beliebig feine Unterscheidungen denkbar, je nach dem Differenzierungsvermögen eines Ohres.