Die anthropologischen Rahmenbedingungen

In der Art von Fragen wie: Welches ist der höchste Berg der Welt? Wie entstand das Universum? Wer erschoss John F. Kennedy? Wann wurde das Rad erfunden? wird häufig auch die nach dem Ursprung der Musik gestellt – nämlich als die Suche nach einem klar festmachbaren, aber bislang nicht entdeckten Grund für die Entstehung der Musik unter den Menschen. Bis vor noch nicht allzu langer Zeit standen sich deshalb Theorien kontrovers gegenüber, die glaubten, die einzig wahre Begründung für die Entdeckung der Musik gefunden zu haben, und noch heute streitet man sich darum, ob man nun das älteste Musikinstrument (in der Regel eine Knochenflöte) ausgegraben habe, und zu welchem Zweck es diente (zum Musikmachen, oder etwa nicht?). Interessanterweise fragt sich dabei kaum jemand, was denn an Einsicht über die Musik selber und die Entstehungsgeschichte der Menschheit gewonnen ist, wenn man das «Rätsel» tatsächlich gelöst hat.

Um es gleich vorwegzunehmen: Hier soll die Meinung vertreten werden, dass weder der Zeitpunkt der Entdeckung der Musik noch ihre Art und Weise wirklich von Interesse sind. Der Wahrheit am nächsten kommen dürfte vermutlich eine Kozeption, die davon ausgeht, dass verschiedene Urmenschengruppen auf höchst unterschiedliche Art zur Musik gekommen sind, diese möglicherweise wieder verloren und neu entdeckt haben. Weil wir nie klingende Zeugnisse prähistorischer Musik haben werden, können wir sie auch nicht als Hinweise für die Suche nach Universalien in der Musik verwenden.

Einen Überblick über die Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Entstehungstheorien bietet die kleine Schrift «Die Anfänge der Musik» (1911) von Carl Stumpf.[1]

Da ist zunächst einmal die Darwinsche Evolutionstheorie, die danach verlangt, dass der Musik irgendein Überlebensvorteil zukommen muss. Da das «undefinierbare gegenstandslose Luftgebilde, das wir Musik nennen, mit den realen Nützlichkeiten und Bedürfnissen des Alltagslebens» nicht zusammenhängt, muss ein wenig Hirnakrobatik betrieben werden. Der Schlüssel liegt im Fortpflanzungsverhalten:

Die Männchen bestrebten sich, den Weibchen zu gefallen, und die Weibchen wählten die aus, die die grössten Vorzüge aufwiesen. Wie die schönsten an Gestalt und Farbe, so wurden auch die besten Sänger oder Brüller von alters her vorgezogen. Bei den Tieren finden wir darum vorzugsweise das männliche Geschlecht farbenprächtig und sangeslustig.[2]

Mit der Theorie kann sich Stumpf nicht so recht anfreunden. Zum einen weist er darauf hin, dass Vögel vielfach auch ausser der Zeit der Liebeswerbung singen und dass die Tiere, die dem Menschen am nächsten stehen, durchaus unästhetische Laute von sich geben. Zudem, meint er, sind «die Gesänge der Naturvölker nicht gerade vorwiegend Liebeslieder, sondern in grösserer Anzahl kriegerische, ärztliche, religiöse Gesänge».

Ein wichtiger Einwand resultiert überdies aus den Beobachtungen, welche die ganz frühen ethnomusikologischen Aufnahmeverfahren mit sich brachten: Da die Abspielgeräte für die Phonographenwalzen keine normierte Geschwindigkeit besassen, nutzen die Forscher ein Pfeifchen mit fester Tonhöhe, mit dem sie vor der Aufnahme einen Referenzton auf die Walze pfiffen, um später entscheiden zu können, in welcher absoluten Tonhöhe die aufzunehmenden Sänger vorgetragen hatten. Dabei machten sie die Beobachtung, dass die Eingeborenen-Sänger den Pfeifenton oft als Grundton ihrer Gesänge übernahmen. Diese Fähigkeit zur Transposition findet sich nach Stumpfs Überzeugung im Tierreich nicht (wie wir heute wissen, hat er sich geirrt – Mâche zum Beispiel erwähnt Hylobate und Lanius minor als Transpositionskünstler). Für Stumpf ist dieses Fehlen ein Beweis dafür, dass Tiere musikähnliche Äusserungen eben nicht auf einer abstrakten Zeichenebene als «allgemeine Begriffe» auffassen:

Es ist mit der Musik ähnlich wie mit der Sprache. Auch die Tiere haben eine Sprache. Aber Sprache in unserem Sinn beginnt erst da, wo die Laute als Zeichen allgemeiner Begriffe gebraucht werden, eine Anwendung, die bei den Tieren ebensowenig nachgewiesen ist, wie der Gebrauch transponierter Intervalle. Was wir von den tierischen Vorfahren in beiden Beziehungen ererbt haben, das ist nur der Kehlkopf und das Ohr.[3]

Den viel wichtigeren Einwand allerdings übersieht Stumpf, nämlich die Tatsache, dass mit der Behauptung, die besseren Sänger hätten die besseren Chancen, zu Sex zu kommen, das Problem bloss verlagert wird: Wenn der einzige Effekt des besseren Singens die Möglichkeit ist, damit potentielle Geschlechtspartner zu beeindrucken, so lässt man nämlich die Frage nach dem Überlebensvorteil aussen vor und macht das Singen zur erotischen Eroberungsstrategie ohne tatsächlichen Tiefgang (eine Theorie, die das heutige Musikbusiness durchaus stützen würde). Der wahre Überlebensvorteil des guten Sängers müsste in einem aussermusikalischen Können liegen, auf das mit dem Singen bloss hingewiesen wird, zum Beispiel auf aussergewöhnliche intellektuelle Beweglichkeit (was vom heutigen Musikbusiness wiederum eher widerlegt würde).

Eine weitere Möglichkeit, die Musik aus dem Tierreich abzuleiten, ist laut Stumpf die Vorstellung des altgriechischen Philosophen Demokrit, nach der die Musik als Nachahmung der Vögel entstanden sei. In dieser Hinsicht macht Stumpf eine interessante Beobachtung. Es ist nämlich so, dass «Naturmenschen» nicht unbedingt das Gesangliche der Vogelstimmen imitieren, sondern eher Perkussives (Stumpf nennt es «Rhythmisches») wie Trillern und Schnalzen. Zudem löst selbst die Vorstellung, dass Melodien nachgeahmt wurden, die Frage nicht, weshalb gerade unser Skalensystem daraus resultieren soll.

Eine von den evolutionstheoretischen Ansätzen unterschiedene Theorie ist diejenige von Rousseau und Herbert Spencer, die Stumpf auf die Formel «Am Anfang war das Wort» bringt:

Sie lehrt die Entstehung der Musik aus den Akzenten und Tonfällen der menschlichen Sprache. Beim erregten Sprechen, unter dem Einfluss starker Gemütsbewegungen, treten diese tonalen Eigenschaften deutlicher hervor. Wenn wir jemanden rufen und, falls er nicht kommt, zum zweiten und dritten Male rufen, oder wenn wir mit steigendem Affekt bitten oder befehlen, wenn wir in Worten jubeln oder trauern: Immer wird nach Spencer die Sprache musikalisch, man beginnt schon zu singen. Diese Tonbewegungen des erregten Sprechens wurden später ganz von den Worten abgelöst und auf Instrumente übertragen, und so ist die absolute Musik entstanden.[4]

Der Theorie des Sprechgesanges gelingt es laut Stumpf jedoch nicht, den Quantensprung von ungefähren Tonhöhen zu einem festen Skalensystem zu erklären:

Das Gesetz und der Geist der Tonkunst verlangen prinzipiell feste Tonhöhen und Intervalle, und auf ihre Erzeugung ist die Intention des Sängers und Spielers, abgesehen von Ausnahmefällen, gerichtet. Bei der Sprache dagegen liegt eine solche Intention im allgemeinen nicht vor und darf nicht vorliegen, wenn sie nicht ihr Bestes opfern will. (…) Sollte die Sprache bei der Geburt der Musik oder bei ihrer Aufziehung irgendwie mitgeholfen haben: die Mutter war sie jedenfalls nicht. Das, was Musik grundwesentlich von der Sprache unterscheidet, kann nicht aus der Sprache gewonnen sein.[5]

Bleibt eine dritte Quelle der Entstehung, die Stumpf mit den Worten von Hans von Bülow mit «Am Anfang war der Rhythmus» charakterisiert. Nach dieser Theorie ist die Musik aus allerarten rhythmischer Tätigkeiten, vor allem dem koordinierten körperlichen Arbeiten mit Trommelschlägen, Rudern und so weiter gewachsen. Der Einwand ist ein ähnlicher wie derjenige gegen die zweite Theorie, ganz abgesehen davon, dass Rhythmus eigentlich ein wesentlich allgemeineres als bloss ein akustisches Konzept ist:

Aber eine noch so fein differenzierte Trommelsonate ist noch nicht Musik, wenigstens nicht die Musik, deren Ursprung wir suchen. Schliesslich gibt es einen Rhythmus ja nicht nur für das Gehör, sondern auch für das Muskelgefühl für sich allein; und wenn die ganze Menschheit ewig taub geblieben wäre, hätte sie recht wohl eine Tanzkunst ausbilden können, aber nicht eine Musik. Die Urkeime der musikalischen Leiterbildungen müssen selbständig entstanden sein, dann erst konnte das melodische mit dem rhythmischen Bedürfnis (das immerhin früher dagewesen sein mag) zusammenwirken.[6]

Anstatt die Einsicht zu haben, dass eine monokausale Entstehungstheorie der Musik immer wieder in eine Sackgasse führen muss, ergänzt Stumpf die Liste einfach durch eine weitere monokausale Erklärung, die überdies keineswegs einen höheren Plausibilitätsgrad hat als alle bislang angeführten. Die Wurzel der Musik bilden nach Stumpf Signalgebungen. Wenn man über eine grössere Distanz hinweg mit der Stimme ein Zeichen geben will, so verweilt man automatisch auf einem Ton. Dies deutet Stumpf als den ersten Schritt zum Gesang, der die Grenzlinie gegen das blosse Sprechen zieht. Der eigentliche Schöpfungsakt geschieht, wenn mehrere Personen zusammengerufen werden, um das Signal zu verstärken.

Sind es Männer und Knaben oder Männer und Weiber, so werden sie Töne ungleicher Höhe erzeugen, weil jeder die höchste Tonstärke nur innerhalb seiner Stimmregion erreicht. So mochten zahllose Mehrklänge zufällig entstehen.[7]

Man hat Mühe, der Erklärung eine hohe Plausibilität zuzugestehen. Überdies ist es ein Experiment wert zu schauen, ob dem tatsächlich so ist. Man muss auch davon ausgehen, dass eine Menschengruppe, die ein starkes Signal zur Kommunikation erzeugen will, nicht in der Stimmung ist, Musik zu machen. Im Gegenteil: Da dürfte nackter Pragmatismus vorherrschen.

Wesentlich plausibler scheint, dass harmonische Verhältnisse auf unterschiedlichste Art entdeckt wurden: beim Überblasen von flötenähnlichen Gefässen, beim Wahrnehmen der Obertöne im Kopf, wenn ein gesangsähnlicher Ton intoniert wurde und so weiter und so fort. Vermutlich war Stumpf unbewusst von der zu seiner Zeit in Europa allbeherrschenden Auffassung beeinflusst, dass Musik vor allem Singen bedeutet.

Die Entstehung der Musik wird vermutlich immer im Dunkeln liegen, und dies ist auch nicht weiter bedauerlich, weil es ziemlich egal ist, wie und wann der Mensch zu ihr gefunden hat. Wesentlich wichtiger ist da schon die Frage, welche Gemeinsamkeiten die Musiken der über den ganzen Erdball verstreuten Völker haben. Die Praktiken gehen nämlich so weit auseinander, dass man zuerst Eigenschaften finden muss, die allen gemeinsam sind und die schliesslich helfen könnten, den Begriff Musik sinnvoll zu definieren.

Über die verbreitete Meinung, dass sich Ethnomusikologen über die Ursprünge der Musik den Kopf zerbrechen würde, kämpft der amerikanische Ethnomusikologe Bruno Nettl zunächst jedoch einmal dediziert an. In dem Artikel «An Ethnomusicologist Contemplates Universals in Musical Sound and Musical Culture»[8] beschreibt er, wie die New York Times und Zeitungen von Toronto anlässlich eines Kongresses der Gesellschaft für Ethnomusikologie einen Artikel über den Fund der – wie angenommen wird – ältesten Flöte (haben wir’s nicht gewusst?) publizierten. Am Kongress selber war der Fund überhaupt kein Thema. Tatsache sei, meint Nettl, dass Ethnomusikologen in keiner Weise irgendwie mit der Frage nach den Ursprüngen der Musik beschäftigt sind. Sie beschäftigen sich, wenn schon, eher mit den Mythen darüber, die ihnen möglicherweise Hinweise darauf geben könnten, welche Rolle die Musik in der entsprechenden gegenwärtigen Kultur spielt.

Nach Stumpfs Publikation, erklärt Nettl, sei das Interesse an den Ursprüngen der Musik drastisch abgeflacht. Tatsächlich wurde den lebhaften Diskussionen rund um den Berliner Kreis aus Carl Stumpf, Robert Lach, Erich von Hornbostel, Otto Abraham, Curt Sachs und Marius Schneider durch den Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende gemacht. Später geriet es auch wegen der Nähe zu Rassentheorien in Misskredit. Es bedurfte deshalb nicht einmal einer offiziellen Ächtung des Themas, wie sie 1866 durch die Société de Linguistique de Paris für die Linguistik ausgesprochen wurde.

Nettl ist die Suche nach Universalien als Grundlage einer ethnomusikologischen Theorie suspekt:

Wir könnten Musik als einen einzigen grossen Komplex von Tönen und Ideen auffassen, eine Art universale Sprache der Menschheit, und wenn wir so etwas akzeptieren würden, würde uns das dazu führen, Universalien auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu konstruieren.[9]

Nettl lehnt dies ab, allerdings ohne sich bewusst zu sein, dass er bereits eine folgenschwere Vorentscheidung getroffen hat – gerade weil er das Problem zu früh ad acta legt: Er macht folgenden Vorschlag:

Eine typischere ethnomusikologische Sicht würde eine Welt der Musik vorsehen, die aus grossen Gruppen diskreter Musiken bestehen würde, in gewisser Hinsicht analog zu Sprache, mit stilistischen, geografischen und sozialen Grenzen.[10]

Auch wenn man dabei Einschränkungen machen muss, so kann man über Musik doch in Begriffen der Sprache sprechen. Ausgerechnet die Ethnomusikologen, welche die grösste nur denkbare Bandbreite an musikalischen Äusserungen abzudecken haben, sollen also eine Vorentscheidung treffen und ihr Gebiet auf die linguistische Metapher, die bereits eine relativ hohe kulturelle Leistung bedeutet, einschränken.

Eine wichtige Beobachtung hingegen macht Nettl. Er weist darauf hin, dass die Kulturen der Welt keineswegs ein einheitliches Konzept von Musik haben. Einige subsummieren darunter auch Tanz, Gesang und damit verbundene Rituale, andere kennen mehr als bloss eine Art «Musik». So unterscheiden etwa persische Musiker zwischen Musiqi und Khandan. Letzteres bedeutet Lesen, Rezitieren und Singen. Kulturen unterscheiden auch zwischen Gebrauchs- und Kunstmusik wie etwa im Deutschen «Musik» und «Tonkunst». Alle Kulturen haben jedoch, meint Nettl, eine Art akustischer Kommunikation, die von der gewöhnlichen Sprache unterschieden werden kann. Dies bietet sich als Kandidat für die Definition eines Universals an – mit der Einschränkung, dass gewisse Kulturen mehrere solcher Kommunikationsformen besitzen, zum Beispiel einige Indianerstämme in Ecuador, die wie die japanischen Mönche gewisse musikalische Erkennungsfloskeln nutzen.

Ein weiterer wichtiger Hinweis Nettls ist die Beobachtung, dass alle Gesellschaften nicht einfach singen und spielen, sondern etwas singen und spielen, dass also Musik als eine Art Objekt oder Entität verstanden wird.

Nettl verwirft die Möglichkeit, Universalien in der Musik normativ festzulegen und bietet dafür eine Art statistischen Ersatz an. Ohne darüber zu spekulieren, ob dies für jede mögliche oder unbekannte Kultur zutreffen könnte, macht er empirisch folgende Feststellungen. Alle bekannten Kulturen kennen laut Nettl:

  • Vokalmusik
  • Instrumente (mindestens in Form primitiver Perkussionsinstrumente)
  • Metrum und/oder Puls
  • Ein (Sub-)System aus bloss vier oder fünf Tonstufen, mit Intervallen, die annährend Halb- und Ganztönen entsprechen
  • Die Einbettung von Musik in Rituale und bei der Anrufung des Übernatürlichen
  • Die bewusstseinsverändernde Wirkung von Musik
  • Die Akzentuierung von wichtigen Ereignissen wie Geburten, Versammlungen und so weiter mit Hilfe der Musik

Kein Universal ist hingegen das Singen in Oktaven von Männern und Frauen. Auch die Nutzung einer Menge diskreter Intervallklassen (Tonleitern) fällt als Universal weg (dumm für Sebastian von Hoerner und die Ausserirdischen). Als Gegenbeispiel führt Nettl die Gesänge der Samaritaner in der Nähe von Tel Aviv und Nablus an, die keine distinkten Intervallklassen kennen.

Allerdings, meint Nettl, besitzen die meisten Kulturen eine Art Unterklasse von Musik, die er als den «einfachsten musikalischen Stil der Welt» bezeichnet. Er besteht aus Liedern, die eine kurze Phrase mehrmals wiederholen und sich bloss im Rahmen einer Quinte abspielen. Die weite Verbreitung und die Verbundenheit, die sie in der Regel mit überkommenen Ritualen haben, legt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um die ältesten musikalischen Formen handelt. Dagegen wendet Nettl ein, dass Europäer dazu neigen, Intervallstrukturen und Melodie sehr stark zu gewichten und dass weite Verbreitung allein noch kein Argument für Alter ist. So könnte ein Forscher aus der fernen Zukunft bei archäologischen Ausgrabungen die Vermutung anstellen, dass das Klavier aus dem 20. Jahrhundert eines der ältesten musikalischen Artefakte darstelle.

Alle diese Überlegungen führen Nettl zur Überzeugung, das die Suche nach zuverlässigen Unversalien in Form struktureller Merkmale praktisch aussichtslos sind. Dennoch, meint er, sei das Problem zu wichtig, um es einfach ungelöst zu lassen.

In einem andern Artikel («On the Question of Universals»[11]) unterscheidet Nettl mehrere Arten von Universalien und ihrer Probleme: Wenn man auf der Suche nach Eigenschaften ist, die allen Arten von Musik eigen sind, dann, erklärt er, steht man vor dem Problem der Individuierung von Musikwerken. Ist zum Beispiel eine Oper eine musikalische Äusserung oder ein Anhäufung solcher? In der Regel können wir ja nach einigen Augenblicken entscheiden, ob etwas Musik ist oder nicht. Der beste Ausgangspunkt ist nach Nettl, von einer grossen Kollektion von Musiken auszugehen, die auf dem Planeten zu finden sind. Sie alle – ihre Zahl mag in die hunderte gehen, und niemand hat einen Überblick über alle – haben eigene Regeln. Aus diesen müssten sich konzeptübergreifende allgemeine Kennzeichen herausdestillieren lassen. Als Kandidaten erwähnt Nettl:

  • Eine Art grosse Sekunde als bevorzugtes Intervall beim Singen
  • Absteigende Tendenzen am Ende eines Stückes
  • Wiederholungen
  • Das Prinzip der Variation
  • Rhythmische Strukturen

Dazu kommt eine allgemeine Auffassung davon, dass Musik eine Art Kunstform, also ein artifizielles Ding, ist. Zudem ist Musik in der Regel mit Tanz und mit Texten sehr eng verbunden. Schliesslich listet Nettl die Positionen auf, die man mit Blick auf den Ursprung der Universalien einnehmen kann:

  • Sie können Ursache in der Tiefenstruktur der Musikalität der menschlichen Natur haben.
  • Sie können aus dem Kontakt der Kulturen untereinander entstanden sein.
  • Sie lassen sich mit Hilfe physiologischer und anatomischer Theorien erklären.
  • Schliesslich lässt sich die Evolution als Erklärung herbeiziehen.

Interessanterweise kehrt Nettl in seinen letzten Spekulationen zum ethnomusikologischen Gemeinplatz zurück, dass frühe Musik irgendwie mit Ritualen verbunden gewesen ist. Er plädiert aber auch dafür, dass man die These in Frage stellt, dass Musik eine monokausale Art der Entstehung gehabt habe.

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[1] Carl Stumpf, Die Anfänge der Musik, Verlag von Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1911; im Georg Olms Verlag, Hildesheim, ist 1979 ein Reprint erschienen. Diesem liegt die folgende Darstellung zugrunde.

[2] a.a.O., Seite 9

[3] a.a.O., Seite 13

[4] a.a.O., Seite 14

[5] a.a.O., Seite 19

[6] a.a.O., Seite 22

[7] a.a.O., Seite 27

[8] Bruno Nettl, «An Ethnomusicologist Contemplates Universals in Musical Sound and Musical Culture», in: Nils L. Wallin, Björn Merker, Steven Brown (Hsg): The Origins of Music, MIT Press, Cambridge (Mass.) 2000

[9] a.a.O. Seite 464

[10] a.a.O. Seite 464

[11] Bruno Nettl, «On the Question of Universals», The World of Music 19, Nr. 1/2 (1977), Seiten 2 – 6