Nach dem Scheitern der Modelle, die Makrokosmos und Mikrokosmos mit Hilfe der Harmonik kurzschliessen wollten, geraten kosmologische Vergleiche in Misskredit. Die Sprachmetapher der Musik tritt ihren Siegeszug an, und dies zu Recht, liegt in ihr doch ein ungleich höheres Erklärungspotential.
Etwas abseits von den grossen Strömungen entwickelt sich Anfang des 20. Jahrhunderts aber eine neue Theorie der Musik als Modell eines eigenen Kosmos mit eigenen physikalischen Gesetzen. Ihr liegt nicht mehr naives Analogiedenken zugrunde. Ihre Fundamente bilden zum einen eine von Hegel inspirierte Metaphysik, zum andern die Gesetze der Gestalttheorie. Das resultierende Energie/Raum-Modell der Musik ist in erster Linie die Schöpfung von Ernst Kurth (1886 – 1946), zu seiner Zeit ein hochgeachteter, aber auch umstrittener Wissenschaftler, der sein Lebenswerk freiwillig fernab der grossen wissenschaftlichen Zentren vollendet – am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Bern in der Schweiz.
Kurth hat vier grosse Werke geschaffen, die ein in sich geschlossenes Gesamtwerk ergeben: eine Kontrapunktlehre («Grundlagen des Linearen Kontrapunkts», 1917), eine Harmonik («Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan», 1920), eine Formenlehre («Bruckner», 1925) und eine Musikpsychologie («Musikpsychologie», 1931), welche die Resultate seines Denkens noch einmal zusammenfasst.
Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis der «Musikpsychologie» spricht Bände: Im zweiten Abschnitt werden «Kraft, Raum und Materie» besprochen. Da wird unter anderem das «Bewegungsbild» diskutiert sowie das Verhältnis von psychischer zu physischer Energie. Das musikalische Raumphänomen wird dargelegt und die «Materieillusion» besprochen. Bei Kurth ist Musik zwar kein Spiegel mehr des Makrokosmos, die Beschaffenheit eines Kosmos hat sie dennoch:
Der Sinnesreiz wird in drei neuen psychischen Grundgegebenheiten an die musikpsychologische Erscheinungsschicht emporgerissen und zur Musik entfaltet: Energie, Raum und Materie erscheinen hier als die grundlegenden Phänomene, die zum Teil, wie sich zeigte, in gewissen Keimformen auch schon die blosse Tonempfindung durchsetzen, freilich erst spurenartig und noch nicht in gleicher Weise. Durch sie wird Musik erst aus einem Gehörsvorgang zu einer Welt des Hörens.[1]
Kurth unterscheidet mehrere Stufen akustischer Wahrnehmung. Die äusserste ist die physikalische, die in Form von Wellen- und Schwingungstheorie beschrieben wird. Als Eingangstor zum Geistigen dient die Physiologie. Sie beschreibt die Vorgänge innerhalb des Gehörorgans, «in denen die Luftschwingungen aufgenommen und durch feinste Nervenerregungen ans Gehirnzentrum vermittelt werden.»[2] Die Physiologie beginnt «mit der Aufnahme der Tonschwingungen durch die reizempfindlichen Aussenenden der Gehörsnerven.» Bis zu diesem Moment kann man von einem passiven Vorgang sprechen. Der von der Physiologie abgehandelte Gehörseindruck ist eine «tabula rasa».
Das Interessante ist nun, dass alle diese Vorgänge und die damit verbundenen Phänomene der Umwandlung in der Schnecke oder der «Cortischen Membran» des Ohres dem musikalischen Hören nicht zugänglich sind. Der Toneindruck bleibt etwa auch «von der Erkenntnis entfernt, dass die Schallstärke quadratisch mit der Schwingungsweite wächst». Abweichungen von der Physik treten zum Beispiel in «Erscheinungen wie der zutage, dass die Summierung der Schallerreger nicht die Schallstärke summiert, und in vielen andern Gegebenheiten des Hörens, auf denen die alltägliche Praxis beruht.»
Die eigentliche Musik ist schliesslich jedoch in hohem Masse eine Schöpfung des Geistes. Eine «bildnerische Kraft gestaltet in die Tonmaterie hinein jenen Scheineindruck des Schmiegsamen, Elastischen. Das ist», meint Kurth, «der Kernpunkt bei allen diesen Erscheinungen: sie liegen in Wirklichkeit nicht in den Tonreizen, sondern werden von den verarbeitenden Kräften in sie hinein verlegt; sie erst verwandeln Klang in ‚Stoff’.»[3]
Der Ton, so Kurths Schlussfolgerung, ist nicht mehr bloss das Abbild der von aussen kommenden Sinnesregungen, sondern ist das, was in dieses Material hineinprojiziert wird. Aus dem, was die physiologischen Vorgänge im Ohr dem Gehirn zuführen, erschafft sich dieses ein virtuelles Universum mit scheinbaren Eigenschaften wie Gravitation, Stofflichkeit, Räumlichkeit, Schwereempfindungen, Bewegung, Kräfte. Wenn eine Saite schwingt, Beitöne erzeugt und fortpflanzt, so entsteht daraus Klang; dass aber Spannung und Gravitationen diesen durchsetzen, das sind wir, darin spiegelt sich nicht das klingende Phänomen, sondern unsere Psyche. Die Lehre von den Tonempfindungen sieht nur die Lebensenergie, die wir vom Ton empfangen; es gibt aber auch eine, die wir dem Ton einhauchen. Jene Erscheinungen sind also in der realen Aussenwelt nicht vorhanden. Sie werden erst psychisch zu einer erlebten Realität.[4]
Die «virtuelle» Physik des musikalischen Raumes ist allerdings brüchig, denn es existiert nur, was im momentanen Bewusstsein ist. Dieses kann gewisse Eigenschaften auch nur fragmentarisch entwerfen. Daraus resultiert auch eine gewisse Unsicherheit in der Wahrnehmung:
Die Kraft vermögen wir unmittelbar zu erfühlen und wir erkennen in tönenden Symbolen ihre Verlaufsformen; sie gibt sich also gefühlsmässig und sinnlich kund. Die Materieempfindung vermögen wir im sinnlichen Eindruck aufzunehmen, freilich beruht sie erst in einer psychisch bedingten Umwandlung der Tonreize. Der Raum aber entzieht sich sowohl der deutlichen Erfühlung wie auch dem klaren Bewusstwerden; die Raumvorstellung verfliesst sogar gerade dann, wenn man sie in die Regionen der Deutlichkeit, eines geometrisch-anschaulichen Raumes heben will. Raum und Materie sind die Erscheinungen einer Zwischenschicht zwischen unterbewussten Tiefenvorgängen und der eigentlichen Klangwelt. Dennoch sind auch Raum- wie Materieempfindungen in der Musik psychologische Phänomene, Grundfunktionen des Hörens, nicht etwa zufallsbedingte Phantasiegebilde.[5]
Einer der zentralen Begriffe der kurthschen Theorie ist derjenige der Kraft, die als ein gerichtetes Hinstreben von Tönen auf andere verstanden wird. In der Analyse des Phänomens trifft Kurth sich bis zu einem gewissen Grad mit Lerdahl und Jackendoff, respektive GTTM. Denn eine der Erklärungen für das Kraftphänomen scheint in der Gestalttheorie zu liegen, auf welche auch die musikalischen Chomsky-Nachfolger rekurrieren. Es ist zwar nicht nachweisbar, dass Ernst Kurth zu den Gestalttheoretikern Kontakt oder von deren Werken Kenntnis gehabt hätte. Die Musikwissenschaftlerin Luitgard Schader kommt in einer Studie über den «Linearen Kontrapunkt» von Kurth jedoch zum Schluss, dass Terminologie und Interpretation so auffallende Ähnlichkeiten aufweisen, dass Kurth die frühen Arbeiten Erich von Hornbostels und Max Wertheimers gekannt haben muss.
Kurth geht aber noch einen Schritt weiter und postuliert zwischen den einzelnen Tönen eine Art Gravitationskraft, die als Gegenstück zu den hierarchischen Kräften in der Transformationsgrammatik – der Prolongationsreduktion – von Lerdahl/Jackendoff gesehen werden kann.
Kurths Werk widersetzt sich in seiner Epoche einer adäquaten Würdigung. Es ist nicht die Zeit der «kosmologischen» Entwürfe, sondern diejenige, in der die Sprachmetapher in ihrer höchsten Blüte steht – vor allem mit dem Werk Hugo Riemanns. An Riemann führte zu dieser Zeit kaum ein Weg vorbei, er gilt als die musiktheoretische Instanz schlechthin. In gewisser Hinsicht bildet sein theoretisches Fundament den Kontrapunkt zu dem von Kurth. Riemanns rezipiert das kurthsche Denken sorgfältig und verständig. Seine Besprechung des «Linearen Kontrapunktes» ist wegweisend für die künftige Aufnahme der Ideen Kurths. Riemann verstirbt leider 1919, und so bricht der Dialog der beiden schon sehr früh ab.
Riemann attestiert in seiner Rezension unter dem Titel «Die Phrasierung im Lichte der Lehre von den Tonvorstellungen»[6] dem Werk von Kurth, es sei «neu, frappierend und sensationell». Allerdings versucht er es, wie Luitgard Schader meint, in seine eigene Phrasierungslehre zu integrieren, und als ihm dies nicht gelingt, wirft er ihm «eine geradezu oppositionelle Haltung gegenüber ihren Tendenzen» vor.
An der gemischten Aufnahme seines Werkes ist Kurth aber auch selber nicht ganz unschuldig. So trifft der von vielen andern Rezensenten erhobene Vorwurf der Unbrauchbarkeit seiner Konzeption für den praktischen Unterricht durchaus einen wunden Punkt, denn die kurthschen Werke sind nur fallweise und sehr locker mit praktischer Analysearbeit verbunden[7]. Zudem neigt er zu einem ausladenden, manchmal etwas geschwätzig wirkenden Stil, der die Sache nie wirklich auf den Punkt bringt. So ist Kurth später auch beinahe in Vergessenheit geraten. Die Beschäftigung mit seinen Werken ist aber nach wie vor lohnenswert.
Heute praktisch vollkommen vergessen ist der 1965 verstorbene Musikästhetiker Victor Zuckerkandl, der Kurths Ideen aufgenommen hat, sich aber in den Grundlagen wesentlich von diesem unterscheidet. Er entwickelt eine «Dreiwelten-Theorie», die einem metaphysisch angehauchten Platonismus näher steht als der moderne Konstruktivismus Kurths.
Zuckerkandl unterscheidet drei Welten: Neben dem Physischen und dem Psychischen, die sich auch bei Kurth finden, postuliert er eine dritte Komponente, die er die dynamische nennt. Aus den Komponenten bauen sich die musikalischen Symbole, die ihre eigene Wirklichkeit haben:
Dem Gläubigen begegnet im Symbol der Gott als von «aussen» kommend; doch erkennt er in ihm den gleichen, der ihm aus inneren religiösen Erlebnissen vertraut ist. Der Gottessucher bemüht sich, «aussen» zu finden, was er in sich schon erschaut hat. Mancher Erleuchtete ist durch eine äussere Erscheinung auf den rechten inneren Weg gewiesen worden. Wir befinden uns hier offenbar in einem Bereich, wo die konventionelle Abgrenzung sich verwischt, das Begriffspaar Innen – Aussen fragwürdig wird.[8]
Nachdem Zuckerkandl jegliche Räumlichkeit aus der Musik verbannt und diese gar zur «raumlosen Kunst par excellence» ernannt hat, macht er sich jedoch daran, das Paradox einer Räumlichkeit ohne Raum, wie sie in der Musik vorzufinden ist, zu erforschen. Das Ausgangsproblem bietet dabei weniger die dritte Raumdimension, die sich nach ihm als Bewegung in der Zeit manifestiert, sondern die scheinbare Räumlichkeit, auf die rekurriert werden muss, wenn mehrere zusammenklingende Töne auseinandergehalten werden können. In diesem Fall müssen sie sich je «an einem andern Ort» befinden. «Erst der Raum lässt uns erfahren, dass es ein Nebeneinander gibt», stellt Zuckerkandl fest[9].
Das Problem stellt sich also folgendermassen dar: Einerseits erscheint die Musik als die Kunst, die – in Schopenhauers Worten – «allein in und durch die Zeit, mit gänzlicher Ausscheidung des Raumes perzipiert wird»; andererseits ist sie durchsetzt von Vorgängen, die eine räumliche Ordnung vorauszusetzen scheinen und die jedenfalls bei «gänzlicher Ausscheidung des Raumes» völlig unbegreiflich werden.[10]
Eine Lösung des Dilemmas lässt sich nur finden, wenn man die Räumlichkeit der Musik nicht mit der Räumlichkeit des physischen Raumes identifiziert. Der «Raum», in dem Musik stattfindet, hat eine andere Struktur als der physikalische Raum, aber viele seiner grundlegenden Eigenschaften. Die ursprünglichste ist das Erlebnis der Ausdehnung, die in der Musik auf subtilste Weise erlebbar ist, sei es im Volumen, das man im einzelnen Ton zu hören glaubt, sei es in den Distanzen von hohen zu tiefen Tönen oder der Dichte und Transparenz eines Klanggewebes. Allerdings – und dies ist vermutlich das Erstaunlichste am Hörraum – ist der Ton zwar in einem «Raum», aber zugleich ist er überall. Daraus schliesst Zuckerkandl auf einen «ortlosen Raum», was im physikalischen Sinne im ersten Moment ein Widerspruch zu sein scheint. Dieser löst sich aber auf, wenn man akzeptiert, dass der musikalische Raum etwas vom physikalischen gänzlich Verschiedenes ist. So lassen sich in ihm Distanzen nicht messen, das heisst er verfügt über kein Metrum.
Auch die Dimensionalität des musikalischen Raumes ist von derjenigen des physikalischen unterschieden. Zuckerkandl führt das eingängige Beispiel der sogenannten Schallhörigkeit an, einer Krankheit, bei welcher der Patient der Fähigkeit verlustig geht, Schallquellen im Raum zu lokalisieren. Dieser nimmt den musikalischen Raum – dies zumindest behauptet Zuckerkandl, ohne nähere Belege anzugeben – genau gleich wahr. Das heisst, seine Organisation des musikalischen Raumes bleibt von derjenigen des physikalischen unberührt.
Die Tiefe des Raumes stammt nicht von der Tiefe des physikalischen Raumes und der Lage der Schallquelle in diesem her. Um die schillernde Dimensionalität des musikalischen Raumes in den Griff zu bekommen, greift Zuckerkandl zu etwas undurchsichtigen Formulierungen, in denen sich aber die Unbestimmtheit der Erfahrung durchaus spiegelt:
In dieser Empfindung, «von … her auf … zu gerichtet» erschliesst sich dem Hörenden die Raumtiefe. Tiefe des Hörraumes bezieht sich also nicht auf die Entfernung zwischen meinem Ohr und der Stelle im Raume, wo ein Ton erzeugt wird, bezieht sich überhaupt nicht auf den Raum, in dem ich Tönen begegne, sondern auf den Raum, der mir in den Tönen begegnet, auf das «Von…her»-Element dieser Begegnung. Tiefe des Hörraumes ist nur ein anderes Wort für dieses Von…-her-Kommen, das wir in jedem Ton empfinden. Es ist wie wenn ein Schwimmer in einem Strome im Druck des Wassers gegen seine Haut die ganze Tiefe der Erstreckung fühlte, durch die hin die Wasser von der Quelle her auf ihn zu in Bewegung sind. Eine Empfindung lässt uns den Hörraum als tief und als fliessend erfahren.[11]
Im modernen mathematischen Sinn gesprochen attestiert Zuckerkandl der Musik eine gerichtete, das heisst vektorielle Natur, die er mit der Dimension der Tiefe identifiziert. Diese stellt er in die Nähe des «fliessenden Raumes», der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vom Philosophen Michael Palágyis[12] postuliert worden ist.
Nun beschränkt Zuckerkandl den musikalischen Raum allerdings auf diese eine Dimension und spricht ihm sowohl Höhe wie Breite oder entsprechende Analogien zu den physikalischen Dimensionen ab, oder genauer, er behauptet, dass jeder Ton, gleich ob hoch, tief, voll oder dünn, den ganzen Raum einnimmt. Dabei verwickelt er sich auch in Widersprüche, etwa wenn er meint, dass «das Raumerlebnis des Hörenden ein Erlebnis von allseits einströmendem Raum ist». «Allseits» würde ja gerade mehr als eine Dimension bedingen.
Das Interessante am Werk Zuckerkandls ist, dass er sich – in der Tradition von Geza Révész[13] und Jakob von Uexküll[14] – davon verabschiedet, den musikalischen Raum mit dem üblichen geometrischen zu vergleichen. Zum einen konstatiert er, dass dem musikalischen Raum eine Fähigkeit des geometrischen vollständig abgeht: die Messbarkeit von Distanzen. Zuckerkandl versucht, den musikalischen Raum als eine Art Energiefeld zu verstehen, in dem sich vektoriell gerichtete Kräfte überlagern und dennoch auseinandergehalten werden können. Dazu dient ihm ein metaphorisches Wesen:
Denken wir uns ein Lebewesen, das keinen unserer Sinne besässe, dafür aber mit einer gleichmässig über den ganzen Körper verteilten, nicht bestimmt lokalisierten Empfindlichkeit für magnetische Einrichtungen begabt sei – vergleichbar vielleicht den dumpfen Empfindungen des Orientierungssinnes –, ein mit Bewusstsein begabtes Stück Eisen. Dieser magnetische Sinn sei ein Fernsinn, das heisst, dass in seinen Empfindungen ein Bewusstsein nicht nur des eigenen Körpers, sondern eines von aussen her aus einer Entfernung Begegnenden gegeben sei. Ein solches Wesen hätte also ein ‚Aussen’-Erlebnis, ein Raumerlebnis – und dieser Raum wäre auch niemals völlig abgedunkelt, leer; infolge des Erdmagnetismus wäre da immer ‚etwas’, besser gesagt, wäre er, der Raum, immer ein Etwas, eine deutliche Spannung. Welche Vorstellung hat ein solches Wesen von einem plötzlich in seiner Nachbarschaft auftretenden Magneten? Es sieht ihn nicht, es greift ihn nicht, es kann von ihm nur – um ein gutes Wort aus dem eben zitierten Buche Köhlers zu gebrauchen – «dynamisch wissen». Das hufeisenförmige oder sonstwie geformte Stück Materie existiert für es überhaupt nicht, nichts existiert, als die plötzliche Veränderung im dynamischen Zustand des ‚Aussen’. ‚Magnet’ ist also für dieses Wesen nicht ein Körper an einem Ort, nicht ein Gegenstand im Raum, sondern ein Zustand des Raumes. Umstellen wir unser beseeltes Eisenstück mit einem Kranz von Magneten – und setzen wir voraus, der magnetische Sinn habe die gleiche Fähigkeit wie das Ohr, aus einer Kombination gleichzeitiger Einwirkungen, die einzelnen Komponenten herauszulösen –, so wird es diese Magneten nicht als Körper an verschiedenen Orten erfahren, sondern als über- oder ineinander geschobene, einander durchdringende dynamische Zustände, alle am gleichen Ort, ‚aussen’, überall. Lassen wir die Magneten sich um das Eisenstück im Kreise drehen, so wird das Ergebnis nicht ‚Ortsveränderung von Körpern’ heissen, sondern ‚Richtungs- und Spannungsveränderung dynamischer Zustände’.[15]
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[1] Ernst Kurth, Musikpsychologie, Max Hesses Verlag, Berlin 1931, Seite 20
[2] a.a.O., Seite 2
[3] a.a.O., Seite 10
[4] a.a.O., Seite 11
[5] a.a.O., Seite 116
[6] Hugo Riemann, «Die Phrasierung im Lichte einer Lehre von den Tonvorstellungen», in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 1 (1918/19), Seiten 26-39
[7] Der Zufall wollte es, dass ich während der Arbeit an diesem Kapitel Hans Gamper, einen pensionierten Juristen aus Bern kennenlernte, der Kurth als Universitätslehrer noch persönlich erlebt hat. Er schildert Kurths Vorlesungen als überaus lebendig und immer am musikalischen Beispiel orientiert.
[8] Victor Zuckerkandl, Die Wirklichkeit der Musik, Rhein-Verlag, Zürich 1963, Seite 71
[9] a.a.O., Seite 254
[10] a.a.O., Seite 255
[11] a.a.O., Seite 272
[12] Michael Palagyi, Neue Theorie des Raumes und der Zeit, W.Engelmann, Leipzig 1901
[13] Géza Revesz, «Gibt es einen Hörraum?», in: Acta Psychologica III, Den Haag 1937
[14] Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie, Springer, Berlin 1928
[15] Die Wirklichkeit der Musik, Seiten 287/288