In der Zeit vom Mittelalter bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hat kein wirklich neuer Gedanke die Musikästhetik befruchtet. Wohl werden die grundlegenden Konzepte verfeinert und die Positionen geklärt, aber das Denken dreht sich doch immer um den Gegensatz von skeptischem Formalismus und der Jagd nach den Inhalten und der Expressivität der Musik.
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnet sich aber eine Wende ab, die der «kopernikanischen» vergleichbar ist, wie sie Kant für die Erkenntnistheorie in der Aufklärungszeit proklamierte. Diese Revolution im musikalischen Denken ist untrennbar mit einem Begriff verbunden, der wiederum eine der grössten denkerischen Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte charakterisiert: mit der Idee der Information.
Anstoss zur neuen Welle gibt das Buch Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung des französischen Sozialpsychologen Abraham Moles aus dem Jahr 1958[1]. In der Abhandlung gelingen dem Autor gleich zwei Richtungsänderungen in der Musikästhetik: Zum ersten Mal sind nicht die Partitur oder bereits formulierte Regeln der Komposition Grundlage der systematischen Theorie, sondern die tatsächlichen Klangereignisse mit all ihren Komplexitäten. Zum andern schafft es Moles, ausgerechnet auf dieser scheinbar wackeligen Basis eine fruchtbare Theorie der exakten Messung von ästhetischen Inhalten zu entwerfen.
Für Moles lautet die Frage in Bezug auf ästhetische Inhalte nicht mehr: Was erkenne ich? sondern: Wie erkenne ich? So aufgefasst, sagt Musik nichts über eine Aussenwelt aus, und sie hat keine konventionelle Bedeutung. Und die Musikästhetik wird zu einer Analyse mit der Art und Weise, wie wir die Welt in einem umfassenden Sinne wahrnehmen. Das heisst auch, wie wir die Aussenwelt emotional färben und wie wir unsere eigenen Emotionen in konkrete Ausdrucksformen bringen.
Den Wandel vollzieht Moles in der Unterscheidung von semantischer und ästhetischer Information. Semantische Information dient dazu, «Handlungen vorzubereiten» (in dieser Definition spiegelt sich deutlich der Jargon der in den Kommunikationswissenschaften tätigen Informationstheoretiker).
[Ästhetische Information] ist nicht übersetzbar, bezieht sich nicht auf ein universales Repertoire, sondern auf ein Repertoire von Kenntnissen, die Sender und Empfänger gemeinsam sind; sie lässt sich theoretisch nicht in eine andere ‚Sprache’ oder in ein anderes System logischer Zeichen übersetzen, weil diese andere Sprache nicht existiert. Sie kommt dem Begriff einer persönlichen Information nahe.[2]
Im ersten Moment wirkt Moles’ Theorie mit ihrer ganzen distanziert-technischen Terminologie abschreckend unmusikalisch. Zudem scheinen viele Überlegungen sehr komplex und teilweise trotz der technischen Sprache dunkel. Dies hat viele praktische Musiker daran gehindert, sich darauf einzulassen (Moles wurde bei seiner Antrittsvorlesung in Strassburg aus der linksradikalen Ecke mit Tomaten beworfen). Verbreitung gefunden hat die Theorie vor allem in strukturalistischen und avantgardistischen Kreisen, die sie zum Teil noch mehr verdunkelt und zu einer Art elitärer Geheimwissenschaft gemacht haben. Die Lektüre des Buches von Moles macht es dem Durchschnittsleser in der Tat nicht einfach, ebensowenig die Schriften seines deutschen Gegenstückes Max Bense.
Die Informationstheorie ist ein Kind der modernen Kommunikationsgesellschaft. Telefon, Telegraph und Computernetzwerke haben die Techniker vor grundsätzliche Fragen darüber gestellt, wie Information übermittelt wird und welche Gesetze dabei eine Rolle spielen. Fragen sind aufgeworfen worden wie: Was für eine Kapazität hat ein Übertragungsmedium, und wie kann man sie messen? Was für eine Rolle spielen Störungen in der Übertragung?
Um solche Probleme angemessen angehen zu können, muss zunächst eine allgemeine Theorie darüber formuliert werden, was Informationen überhaupt sind. Beim Beschreiten dieses Weges stossen die Theoretiker auf manche Goldader: So zeichnet sich in der Zeit von Moles immer mehr ab, dass der Begriff auch für grundsätzlichere Fragen von grosser Bedeutung ist, etwa in der Physik, in der thermodynamische Probleme in einem ganz neuen Licht erscheinen – und eben auch in der Ästhetik.
Den Ausgangspunkt der Informationstheorie markieren zwei Artikel aus den Jahren 1948 und 1949[3] aus dem Umfeld der berühmten Forschungslabors der alles beherrschenden amerikanischen Bell Telefongesellschaft. Geschrieben werden sie von den Wissenschaftlern Claude Shannon und Warren Weaver. Die beiden Autoren unterscheiden in ihrem Entwurf einer allgemeinen mathematischen Formulierung des Informationsbegriffs drei Ebenen der Kommunikation:
- die technische Ebene (Wie können Zeichen übertragen werden?)
- die semantische Ebene (Wie genau entsprechen die Zeichen der gewünschten Bedeutung?)
- die Frage der Effektivität (Wie beeinflusst die empfangene Nachricht das Verhalten in gewünschter Weise)?
Die Formulierungen zur dritten Ebene verraten die Herkunft der Theorie aus der Technik. Information kann nämlich auch zwischen Maschinen oder Sensoren und Maschinen ausgetauscht werden. Ein Hitzesensor misst etwa die Raumtemperatur und übermittelt seine Daten an einen Heizkörper, der auf diese Daten reagiert, indem er mehr oder weniger heiss wird. In der menschlichen Kommunikation müsste die Frage eher heissen: «Wie korrekt kann der Empfänger die Nachricht verstehen?».
Es ist überaus wichtig zu sehen, dass Information und Bedeutung zwei verschiedene Dinge sind und in der Informationstheorie der Akzent nicht auf der Bedeutung einer Botschaft liegt. Da sich die Kommunikationswissenschaftler vor allem mit technisch-ökonomischen Problemen herumschlagen, stellen sie sich in erster Linie Fragen wie: Wieviel Information kann ich über welches Medium übertragen? Wie kann ich die Information so gestalten, dass ich möglichst wenig Übertragungsaufwand brauche? Wieviel Störungen verträgt ein Übertragungskanal? und so weiter. Information wird dabei vor allem quantitativ gesehen.
Gerade dieser quantitative Aspekt ist für die Ästhetik neu. Die Disziplin hat sich bis dahin ausschliesslich mit qualitativen Fragen beschäftigt. Quantitative Aspekte spielten bloss am Rand eine Rolle. Zum Beispiel, wenn sich der König im Film «Amadeus»[4] bei Mozart über die zu vielen Noten in der Musik beschwert.
Ein Kommunikationssystem wird von Shannon und Weaver folgendermassen charakterisiert:
Das Kommunikationsschema
von Shannon und Weaver
Ein Sender übersetzt eine Nachricht in ein transportierbares Signal, das von diesem aus über einen Kanal gesendet wird. Am andern Ende des Kanals übersetzt der Empfänger das Signal wieder in die ursprüngliche Nachricht. Auf die Musik übertragen bedeutet dies grob etwa Folgendes: Ein Komponist will eine Gefühlslage oder eine abstrakte Botschaft übermitteln. Dazu verpackt er sie in das Medium der Musik, das der Hörer wahrnimmt und daraus die Botschaft wieder herausdestilliert.
Um alle die angetönten Fragen angehen zu können, muss eine Möglichkeit bestehen, Information zu quantifizieren. Dies geschieht nach folgendem Verfahren:
Die kleinstmögliche Menge an Information liefert ein einfaches Ja/Nein-Schema. Dabei wird aus genau zwei möglichen Nachrichten eine ausgewählt. Noch weniger Information geht nicht, denn die Übertragung einer einzigen möglichen Nachricht vermittelt überhaupt nichts; wir wissen ja dann von vornherein, dass auf jede mögliche Frage mit «Ja» geantwortet wird und erfahren überhaupt nichts neues.
Eine Information kann so gesehen als die Auswahahl aus einer Menge von mehreren Nachrichten. Je mehr Möglichkeiten der Wahl bestehen, umso detaillierter ist die Information, umso höher ist der Informationsgehalt.
Das «Ja/Nein»-Schema erinnert sehr stark an die 1/0-Logik der Kodierung im Computer. Und tatsächlich wird die Einheit der Information als Bit[5] bezeichnet.
Wenn ein Bit die Wahl aus zwei möglichen Nachrichten bedeutet, so müssten zwei Bit die Wahl aus vier möglichen Nachrichten bedeuten. Dies ist tatsächlich der Fall:
00 | (entspricht 0) |
01 | (entspricht 1) |
10 | (entspricht 2) |
11 | (entspricht 3) |
Die acht Möglichkeiten von acht Bit Information sind folgendermassen auflistbar:
000
001
010
011
100
101
110
111
Das heisst, das Binärsystem, das dank der Informatik zum Allgemeingut geworden ist, eignet sich hervorragend, um Informationsmengen zu quantifizieren. Sie werden verstanden als die Anzahl Möglichkeiten, mit einer bestimmten Menge Elemente unterschiedliche Muster zu erzeugen.
Nun sprechen wir aber intuitiv davon, dass in zwei Bit (zweimal 0/1) doppelt so viele Information steckt wie in einem Bit, und in drei Bit (dreimal 0/1) dreimal so viel (Computererfahrene können das bestätigen: Sie sehen 256 MByte Hauptspeicher als das Doppelte von 128 MByte Hauptspeicher an!).
Unsere Skala folgt folgendem Gesetz:
2 ist dasselbe wie 21
4 ist dasselbe wie 22
8 ist dasselbe wie 23.
Mit anderen Worten: Wir zählen die Informationsmenge anhand der Hochzahlen.
So etwas haben wir aber bereits einmal angetroffen: Wir nehmen Information ähnlich wahr wie Frequenzen beim Hören, nämlich logarithmisch.
Man kann dieses System noch weiter differenzieren: Die geschriebene Sprache kennt nicht wie das Binärsystem bloss zwei Zeichen («1» und «0»). Ein Wort wie «TIGER» ist eine Kette mit fünf Zeichen, die jedesmal aus einem Vorrat von rund zwei Dutzend Zeichen (A, B, C, … und so weiter) ausgewählt werden. Der Informationsgehalt des einzelnen Zeichens ist also bereits höher als derjenige einer «1» oder einer «0» im Binärsystem. Das sieht man auch, wenn man das Wort «TIGER» mit Hilfe des sogenannten Ascii-Zeichensatzes in eine binäre Schreibweise übersetzt:
TIGER | (5 Zeichen) |
01111011 01001001 01000111 01000101 01010010 | (40 Zeichen) |
Der ASCII-Zeichensatz nummeriert die Zeichen der Schriftsprache durch. T erhält die Nummer 123, I die 73, G wird zu 71, E zu 69 und R zu 82. Wenn man diese Zahlen in Binärform darstellt, erhält man obige binäre Schreibweise des Wortes «TIGER». Die Folge: Je kleiner der Zeichenvorrat, umso länger die Nachricht.
Man hat also ein exaktes Mass, wenn es gelingt, die Menge der Zeichen des Codes exakt anzugeben. Es ist wichtig, sich dies zu merken, denn diese Forderung wird zu einem der wichtigsten Aspekte der ästhetischen Informationstheorie.
Bevor Abraham Moles zu Wort kommen soll, müssen noch drei weitere Begriffe eingeführt werden, welche seiner Idee erst wirklich Leben einhauchen werden: Redundanz und Entropie.
Redundanz misst, wieviel Information in einer Nachricht «überflüssig» ist. Für die Kommunikationstechniker ist dies von grosser Wichtigkeit, weil sie mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel übermitteln wollen. Die begrenzte Kapazität der Kanäle führt dazu, dass man Methoden sucht, alles Überflüssige möglichst wegzulassen. (Nebenbei gesagt beherrscht die Musikindustrie zur Zeit ein Thema, das mit dem Eliminieren von Redundanzen viel zu tun hat: die vieldiskutierte MP3-Kompression, die es erlaubt, Musik in hervorragender Qualität über das Internet zu verbreiten. Kompressionsverfahren wie MP3 machen unter anderem eben auf raffinierte Weise genau das: Sie spüren Redundanzen in der Übermittlung auf und eliminieren sie.)
Die Idee der Redundanz lässt sich intuitiv anhand von Mustern verständlich machen. Die folgende Zeichenkette zeigt ein offensichtliches Muster:
0010010010010010010010010010010010010010010010010010010
Die Kette «001», wird ständig wiederholt. Die Redundanz in dieser Zeichenkette ist sehr hoch.
Nun vergleiche man folgende Zeichenkette:
0100111001001010010100110001100110011010101110011110001
Diese Zeichenkette folgt keinem offensichtlichen Muster, es kommt ständig Neues. Die Redundanz ist klein.
Mit der Redundanz in Zusammenhang steht auch die Vorhersagbarkeit eines Musters und damit die Wahrscheinlichkeit. Im ersten Fall wird immer wahrscheinlicher, dass die Reihe mit «001» fortgesetzt wird, im zweiten Fall hat kein Muster eine hohe Wahrscheinlichkeit. Darin liegt ein weiteres wichtiges Charakteristikum von Information: Je wahrscheinlicher eine Nachricht ist, umso weniger Information enthält sie, je geordneter ein Muster ist, um so weniger Information kann man ihm entnehmen.
Zwischen Information und theoretischer Physik existiert eine verblüffende Verbindung. Sie geht zurück auf eine der faszinierendsten Gestalten, welche die Physikerzunft im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, auf Ludwig Boltzmann (1844 – 1906). Boltzmann war nicht nur ein begnadeter Experimentator, er schrieb auch überaus witzige Reiseberichte («Reise eines deutschen Professors ins Eldorado»[6]), und war ein Musikschüler Anton Bruckners. In der Physik beschäftigte er sich als einer der ersten dezidierten Verfechter der Atomtheorie mit den Zusammenhängen zwischen Thermodynamik und Mechanik. Das Problem, das sich ihm vor allem stellte, war eine eigenartige Asymmetrie zwischen den beiden Gebieten.
In der Mechanik lassen sich Vorgänge umkehren, ein Wagen etwa, der eine Rampe hochgeschoben wird, kann auf dieselbe Art wieder abwärts geführt werden. Ist ein Gegengewicht für die Bewegung verantwortlich, gewinnt man auch dessen potentielle Energie wieder zurück:
Mechanische Kraft ist umkehrbar. Die Höhe,
die der Gewichtsklotz verliert, wenn der Wagen aufwärts
fährt, kann mit dem Abwärtsfahren des Wagens
wieder gewonnen werden.
Vorgänge in der Thermodynamik sind von ganz anderer Qualität. Ein Gas, das sich einmal in einem Raum ausgebreitet hat, lässt sich nicht mehr in die Gasflasche zurückzwingen.
Grundlegend für Boltzmanns Theorie ist der Begriff der Ordnung. Man kann nämlich die Beobachtung machen, dass ein beliebiges System dazu neigt, von einem Zustand der Ordnung in einen solchen der Unordnung überzugehen. Mit andern Worten: Ein physikalisches System tendiert dazu, von einem weniger wahrscheinlichen Zustand in einen wahrscheinlicheren überzugehen, und zwar in einem logarithmischen Verhältnis.
Wie geordnet ein System ist, wird mit Hilfe des Begriffs der Entropie ausgedrückt. Sei ist ein Mass für die Ordnung respektive Unordnung eines Systems. Die entsprechende Formel
Entropie = k*ln(Wahrscheinlichkeit)
deren Herleitung wir uns sparen wollen, schmückt sogar Boltzmanns Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof.
Die Konsequenz aus dem Boltzmannschen Gesetz ist, dass die Ordnung des gesamten Universums dazu tendiert, sich mehr und mehr aufzulösen, bis ein gleichmässiger Zustand grösstmöglicher Unordnung erreicht ist.
Die verblüffende Verbindung zwischen der Thermodynamik und der Informationstheorie: Man kann Information durch Entropie messen. Dies lässt sich an den beiden obigen Zeichenketten illustrieren: Die erste ist wohlgeordnet und hat damit eine tiefe Entropie, die zweite ist chaotischer und hat damit eine höhere Entropie. Physikalisch gesehen stehen Entropie und Information demnach in einem paradoxen Verhältnis: Je grösser das Chaos in einem System, um so grösser die Information, die darin gespeichert werden kann. Das Rauschen einer Bildstörung im Fernseher ist also prinzipiell in der Lage, weit mehr Information zu transportieren als eine Szene aus dem Filmklassiker «Lawrence of Arabia» die vor allem aus gleichförmigem Sand und uniformem blauem Himmel besteht.
Das Paradox führt drastisch vor Augen, dass Information und Bedeutung nicht dasselbe sind. Das Informationsmass, so wie es Shannon und Weaver verstehen, hat noch keine Bedeutung. Es gibt bloss die Menge an potentieller Bedeutung an, die kodiert werden könnte.
Das «Sesam öffne dich» für die ästhetische Theorie von Abraham Moles ist also die Möglichkeit, Musik in diskrete Bausteine zerlegen zu können, die als Elemente einer quantifizierbaren Sprache gesehen werden können. Ein Informationsmass kann ja, wie erwähnt, nur dann definiert werden, wenn die Kombinatorik von diskreten Elementen ins Spiel gebracht werden kann. Tatsächlich liegen diskrete Elemente in der Musik eigentlich bereits vor: in den Schlägen des Metrums und den diskreten Tonhöhen, sowie den wohldefinierten und abgegrenzten Klangfarben der Instrumente.
Moles macht sich dazu aber noch allgemeinere Überlegungen. Er betritt damit das Gebiet der Tonphysiologie und öffnet erstmals eine Möglichkeit, die Ansätze der grossen Musikpsychologie-Pioniere des 19.Jahrhunderts – Carl Stumpf, Hermann von Helmholtz und andern – nicht isoliert zu betrachten, sondern in ästhetische Überlegungen zu integrieren. Bislang, so meint er, seien alle Versuche gescheitert, die physikalischen und physiologischen Grundlagen der Musik mit ihren ästhetischen Beschaffenheiten in Verbindung zu bringen:
Die musikalische Akustik, auf die so viele Ästhetiker und Musiker gehofft haben, war vorwiegend deshalb ein Fehlschlag, weil sie nicht an den wahren Problemen der Schaffung von Tonstrukturen interessiert war. Sie untersuchte beispielsweise die Bogenreibung der Saite, obwohl das für den Musiker, der kein Instrumentenbauer ist, einzig wichtige Phänomen der Ton war, den diese Saite hervorbrachte. Der Informationstheorie der Physik der Nachricht sollte man deshalb den Versuch abverlangen, die Strukturen dieser speziellen Nachricht darzulegen, nachdem sie zuvor von einigen wesentlichen Aspekten der Elementarstrukturen berichtet hat. Diesen Versuch machen wir jetzt und verändern dabei methodisch den Standpunkt, um die Existenz des Klangphänomens per se, unabhängig von überholten traditionellen Bindungen, kurz, die Existenz des Klangobjekts, zu erweisen.[7]
Einer der Angelpunkte zwischen musikalischer Akustik und Ästhetik ist die Art und Weise, wie der Zeichenvorrat der Musik zustande kommt. Moles lässt hier die traditionelle pythagoreisch-helmholtzsche Erklärung via Obertonspektrum beiseite. Ein Ton besteht nach dem Informationstheoretiker aus den Komponenten Tonstärke (physikalisch gemessen in Mikrobar als Druck, wahrnehmungsmässig in Dezibel, dB), Tonhöhe (physikalisch als Frequenz, wahrnehmungsmässig als Stufe einer Oktavunterteilung) und einer Länge (in Sekunden, respektive als Dauer).
Man kann sich nun fragen, wie viele Stufen in diesen Komponenten der Mensch zu unterscheiden fähig ist. Für die Tonstärke gibt es dabei eine untere Reizschwelle, unter der nichts mehr wahrgenommen wird. Die Dezibelskala ist gerade so geeicht, dass dieser Punkt zu 0 dB wird. Es existiert aber auch eine obere Sättigungsschwelle, über der Töne bloss noch undifferenziert als Schmerzerlebnis wahrgenommen werden. Sie befindet sich etwa bei 140 dB. Wichtig ist nun festzustellen, wie fein die Unterscheidungen sind, die das Ohr zu machen versteht.
Experimentelle Versuche ergeben, dass Unterschiede der Lautstärke von weniger als einem Dezibel nicht mehr wahrgenommen werden (diese Schwelle kann je nach Untersuchung und Kontext variieren, es geht hier auch nur ums Prinzip). Der Mensch ist prinzipiell also in der Lage, etwa 140 Tonstärkengrade zu unterscheiden. Für professionelle Orchestermusiker existiert sogar ein wesentlich gröberer Raster von etwa acht Stufen (Moles lässt übrigens mp nicht zu) :
Damit wäre zum ersten die Tonstärken-Komponente gerastert. Für die Tonhöhe können analoge Beobachtungen gemacht werden. Die unter Schwelle beträgt etwa 16 Hz, darunter wird nur noch Rumpeln oder Klopfen wahrgenommen. Die obere Schwelle ist altersabhängig und beträgt etwa 16000 Hz. Das Unterscheidungsvermögen naheliegender Frequenzen ist stark abhängig von der Frequenz, es beträgt im Grossen und Ganzen etwa 0,5%. Damit kann der Mensch physiologisch rund 1200 Höhengrade unterscheiden. Die musikalische Konvention reduziert dieses Unterscheidungsvermögen (laut Moles) wiederum auf rund 92 Töne (der erweiterten Klaviertastatur).
In Sachen Tondauer werden folgende Beobachtungen gemacht: Zwei Ereignisse werden als getrennt wahrgenommen, wenn sie mindestens etwa 0,05 Sekunden (das heisst 50 Millisekunden) Abstand haben. Dauert ein Ton länger als 6 bis 10 Sekunden, so wird er einfach undifferenziert als sehr lange dauernd wahrgenommen. Die Zeitdauer-Unterscheidung zwischen diesen beiden Schwellen ergibt physiologisch etwa 30 unterschiedliche Werte. In der Musik wird auch dieser Raster laut Moles stark vergröbert, nämlich auf:
Vierundsechzigstel
Zweiunddreissigstel
Sechzehntel
Achtel
Viertel
Halbe
Ganze
————-
7 Unterscheidungen
In dieser Hinsicht muss Moles korrigiert werden, denn zum einen verwechselt er da absolute und relative Längen: Die Unterscheidungen, die er sucht, beziehen sich auf absolute Tondauern, die angegebenen Tonlängen sind jedoch relativ zu einem Tempo. Zum andern fehlen punktierte Noten, verdoppelte Noten und auch Hemiolen, Triolen, Quintolen und so weiter. Das musikalische Differenzierungsvermögen ist also wesentlich feiner. An Moles’ eigentlichem Argument ändert dies aber natürlich nichts.
Aus diesen Elementen werden nun musikalische «Nachrichten» gebaut, deren Informationsgehalt sich dank der Informationstheorie prinzipiell quantifizieren lässt. Damit öffnet sich ein weites Feld zum Experimentieren. Wieviel musikalische Information kann ein Hörer aufnehmen? Welches ist die angenehmste Dichte an musikalischer Information (man denke da wieder an Mozarts König) und so weiter.
Zu all den Überlegungen kommt laut Moles noch ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: Im technologischen Zeitalter hat die Art und Weise, wie Musik wahrgenommen wird, einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht. Sie wird über technische Sendekanäle – Lautsprecher, Rundfunk – vermittelt. Es werden nicht mehr primär Aufführungsanweisungen in Form von Noten gespeichert, sondern die eigentlichen Klangereignisse (auf Tonbändern, Schallplatten und heute auf CD, DVD oder Festplatten). Das heisst, Musik hat einen bislang ungekannten materialen Charakter angenommen. Die Musikästhetik muss dem Rechnung tragen und statt Partituren eben die real erklingende Musik zur Grundlage ihrer Forschungen nehmen.
Insbesondere zu untersuchen gibt es nach Moles:
- Die harmonischen Gesetze: Sie regeln den Aufbau von Zeichen aus Elementen und die prinzipiellen Einschränkungen, denen ihre Kombinationen unterliegen.
- Die melodischen Gesetze: In ihnen kommt die innere Homogenität eines Klangwesens zum Ausdruck; sie regeln die Entfaltung der Klangzeichen in der Zeit.
Im weiteren unterscheidet Moles vier hierarchische Strukturen eines «Klangobjekts»:
- eine Elementarstruktur: Die Periodizität des Klangstoffes führt zum Zeichen.
- eine Mikrostruktur: Das Zusammensetzen von Zeichen führt zum Klangobjekt.
- eine mittlere Struktur: Die Entwicklung der Klangobjekte nach gewissen ästhetischen Modi führt zu einer zeitlichen Zelle.
- eine Makrostruktur: Die Komposition der Objekte und Zellen führt zu übergeordneten Strukturen.
Konkret leitet Moles zudem vier harmonische und zwei melodische Gesetze her.
- harmonisches Gesetz (Energiegesetz): Jeder Ton befördert eine gewisse Energiemenge.
- harmonisches Gesetz (Gesetz der harmonischen Teiltöne): Klangenergien sind Vibrationssysteme, die sich aus harmonischen Teiltönen aufbauen).
- harmonisches Gesetz (Konvergenzgesetz): Dieses ist sehr technisch formuliert. Da Moles es ansonsten nicht mehr erwähnt, verzichten auch wir auf eine Erläuterung.
- harmonisches Gesetz (Maskengesetz): Klangquanten gleicher Tonhöhe vermischen sich.
Die melodischen Gesetze:
- melodisches Gesetz (Beständigkeitsgesetz): In einer Melodie sind die aufeinander folgenden Tonzeichen kohärent aufeinander bezogen und ergeben so ein grösseres Ganzes (etwa im Gegensatz zum Prasseln von Regen auf einem Dach, das bloss Geräuschcharakter hat). Die Autokorrelation äussert sich in dem Satz: «Kein Zeichen kann vom unmittelbar vorhergehenden sehr verschieden sein.»
- melodisches Gesetz (Gesetz der Übergänge): Klangobjekte lassen sich in zwei Phasen einteilen: beständige und transitorische. Transitorische sind etwa Einschwingvorgänge und Konsonanten, also kurze, in der Regel explosive Ereignisse. Die beständigen bilden den Hauptteil des Klangobjektes. Für eine Melodie gilt nun, dass die Durchschnittszahl Nt, der in den transitorischen Abschnitten vorhandenen Elemente proportional ist zur Zahl der Endelemente und umgekehrt proportional der Gesamtdauer Θ des transitorischen Abschnittes: