Leonard B. Meyers musikalische Erwartungen

Zu den Schriften von Moles gibt es eine angelsächsische Alternative, die viele ähnliche Gedanken formuliert, dies aber in einer weitaus praktischeren und zugänglicheren Art: Die Werke Leonard B. Meyers. Der amerikanische Musikpsychologe hat 1956 mit «Emotion and Meaning in Music» einen Klassiker geschrieben, in dem Gestalt- und Informationstheorie zu einer fruchtbaren neuen Sicht auf die Frage nach musikalischer Bedeutung zusammengeführt werden. Es ist das meistzitierte Buch der Musikpsychologie und sein Einfluss auf die heutige Musikpsychologie kann gar nicht unterschätzt werden.

Meyer nimmt das Gesetz der Prägnanz und dasjenige der guten Fortsetzung der Gestalttheoretiker auf. Das erste besagt, dass die wahrgenommene Struktur immer so einfach wie möglich ist. Das zweite postuliert, der menschliche Geist gehe davon aus, eine Struktur werde in der immer gleichen Art fortgesetzt. Der aktive, in den Vermutungen über die Struktur des musikalischen Geschehens vorauseilende menschliche Geist nimmt aufgrund solcher Gestaltgesetze an, dass die in Entwicklung begriffene Struktur möglichst einfach und abgerundet komplettiert wird. Das heisst, die schöpferische Komponente der Gestaltprinzipien führt zu einer Erwartung an die weitere musikalische Entwicklung auf Basis des bereits Gehörten.

Musikalische Bedeutung nun entsteht genau aus dieser Erwartungshaltung. Die Bedeutung eines musikalischen Ereignisses ist nichts anderes als die Fortsetzung, die es impliziert. Das heisst aber auch, dass musikalische Ereignisse, die in uns keinerlei Erwartungen oder Vermutungen wecken, auch keine Bedeutung in sich tragen.

Meyer formuliert seine These in einem 1957[1] erschienenen Artikel explizit als informationstheoretischen Ansatz: Den Angelpunkt sieht er dabei im Konzept der Markov-Ketten, die in engem Zusammenhang zu seiner Theorie der erfüllten oder nicht erfüllten Erwartung steht. Überhaupt, meint Meyer, sind musikalische Stile ja nichts anderes als verinnerlichte Wahrscheinlichkeitssysteme. Auch Theorieanweisungen zur Komposition können als solche interpretiert werden. In einem Harmonie- oder Kontrapunkt-Lehrbuch werden Regeln üblicherweise als Wahrscheinlichkeiten angegeben: Nach einer Tonika folgt meistens eine Dominante, häufig eine Subdominante, ab und zu gefolgt von einer Submediante und so weiter.

Normen eines Stils charakterisiert Meyer schliesslich folgerichtig als die Wahrscheinlichkeitsbeziehungen, die einen speziellen musikalischen Stil ausmachen, zusammen mit den «verschiedenen Weisen des mentalen Verhaltens, die in der Wahrnehmung und dem Verstehen des Materials» eine Rolle spielen.

Auf dieser Basis skizziert Meyer drei Arten von innermusikalischer Bedeutung:

Hypothetische Bedeutung: Diese ist einem Ton oder Tonmuster insofern eigen, als dass bestimmte Erwartungen darüber geweckt werden, was in der musikalischen Entwicklung folgen wird. Sie erklärt auch, weshalb wir fähig sind, uns überraschen zu lassen: Wir tendieren dazu, eher unwahrscheinliche Entwicklungen aus unserem Erwartungshorizont auszublenden, diese sind, wenn sie eintreten, deshalb eben unerwartet.

Evidente Bedeutung: Sie wird einem Ereignis im Nachhinein – quasi korrigierend – zugewiesen, nämlich dann, wenn eines der möglichen Ereignisse, auf die es hinzielen könnte, tatsächlich eingetreten ist. Sie entspricht dem, was Systemtheoretiker «Feedback» nennen.

Determinierte Bedeutung: Damit ist der Sinn gemeint, der sich aus dem musikalischen Ganzen ergibt, wenn es vom Hörer einmal vollständig erfasst worden ist.

Nun spielt in der Wahrnehmung der Musik eben nicht bloss die einfache Erwartung eine Rolle, sondern die Wahrscheinlichkeiten (oder Erwartungen), dass ein bestimmtes musikalisches Ereignis eintritt, hängen stark davon ab, was vorausgegangen ist. Wenn erst zwei oder drei Töne erklungen sind, herrscht noch grosse Unsicherheit darüber, wie sich die Musik weiterentwickeln wird (es können sogar noch Unsicherheiten darüber bestehen, welchem Stil das Gehörte zuzuordnen ist). Wenn eine Phrase aber beinahe vollständig gehört ist, so steigen die Wahrscheinlichkeiten für das zu erwartende Kommende erheblich. Mit andern Worten: Die Wahrscheinlichkeiten eines Ereignisses in der Musik hängen von früheren ab. Dies ist aber gerade die Definition eines Markov-Prozesses.

Auch der Begriff der Redundanz wird von Meyer in die musikalische Betrachtung eingeführt. Redundante Strukturen seien nötig, meint der Musikpsychologe, weil sie, wie in der verbalen Kommunikation auch, zur Verständlichkeit beitragen. Dies könne, meint er, zumindest teilweise auch das Unverständnis des Publikums gegenüber moderner avantgardistischer Musik erklären: Die modernen Komponisten hielten die Redundanz-Rate in ihren Werken so tief, dass die «Kanalkapazität» ihrer Hörerschaft unweigerlich überfordert würde.

Später (1967) hat Meyer die Reichweite der Informationstheorie und damit des statistischen Prinzips in der Musik etwas relativiert. Demnach unterliegen nicht alle Ebenen der musikalischen Erfahrung statistischen Gesetzmässigkeiten. In Konflikt mit der statistischen Sichtweise kommt vor allem das Gestaltsehen, das sich eben nicht auf ein passives Zählen von Ereignissen zurückführen lässt, sondern ein starkes kreatives Element erhält. Strukturen, die vom menschlichen Geist selber geschaffen werden, können eben nicht mit statistischen Mustern gleichgesetzt werden.

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[1] Leonard B. Meyer, «Meaning in Music and Information Theory», The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. XV/4, Juni 1957