Das Modell der Musik als Spiegel der Welt ist das erste abstrakte Weltmodell überhaupt. Es führte zur Entdeckung allgemeiner Zahlengesetze und war der Anlass dazu, eine mächtige Zahlentheorie zu entwickeln. Der Grund dafür ist vermutlich, dass astronomische Vorgänge und Musik als einzige Dinge der antiken Erlebniswelt und auf auffallende Weise einfachen Zahlenverhältnissen zu folgen scheinen: Himmelskörper kehren periodisch wieder, Jahre unterteilen sich in Tage, der Mond nimmt in regelmässigen Zeitabständen zu und ab, Saiten ergeben harmonisch klingende Verhältnisse bei ganz einfachen Unterteilungen und so weiter. Wie keine anderen Lebensbereiche müssen Astronomie und Musik die prähistorischen und frühgeschichtlichen Menschen mit der Nase auf Zahlengesetze und abstrahierendes Denken gestossen haben.
Dem antiken Menschen dürfte aufgefallen sein, dass ein wohltönender Klang sich aus mehreren Bestandteilen zusammensetzt, sei es, dass er flötenähnliche Instrumente überblies, schwingende Saiten zufällig bei ihren Schwingungsknoten berührte oder beim Erzeugen von musikalischen Singtönen im eigenen Kopf als Resonanzkörper deutliche Obertöne hörte. Mit andern Worten: er dürfte sich mit dem Phänomen der Obertonreihe konfrontiert haben, die ihn damals vermutlich genauso ins Staunen und Rätseln gebracht haben dürfte wie spätere Epochen die Elektrizität, die Relativität von Raum und Zeit oder der Erfolg des Schmachtfetzens «Gebet einer Jungfrau».
Der Nachvollzug der mathematisch-physikalischen Gesetze der Obertonreihe ist im Grunde genommen einfach. Ein kleines Hindernis bietet bloss das Verständnis des sogenannten logarithmischen Hörens.
Oktaven bauen physikalisch in exponentialer Art aufeinander auf:
Physikalisch gesehen sind die Frequenzen
aufeinanderfolgender Oktaven Halbierungen derjenigen
der jeweils vorangehenden.
Das Ohr allerdings hört die Aufeinanderschichtung linear, C, c, c’ und so weiter scheinen alle gleich weit voneinander entfernt:
Das Ohr hört Oktaven in immer gleichem
Abstand aufeinanderfolgend.
Eigentlich stimmt auch das nicht ganz genau – in Wirklichkeit lässt das Ohr die Distanzinterpretation mehr oder weniger offen. Vieles an dem Distanzempfinden ist Konditionierung durch kulturelle Prägung. Sobald wir Töne in Beziehung zueinander setzen, haben wir etwa das Modell der Klaviertastatur vor dem geistigen Auge, die eben gerade das lineare Abstandsmodell realisiert:
Auf der Klaviertastatur scheinen die Töne in
regelmässigen – linearen – Abständen angeordnet.
Der Konfliktes zwischen linearer Wahrnehmung und exponentialem Frequenzgang ist dafür verantwortlich, dass die Hörintuition immer wieder scheitert, wenn sie die mathematische Darstellung der Tonleiter nachvollziehen will.
Die wahren physikalischen Verhältnisse ziwschen den Tonhöhen lassen sich nicht an einer Klaviertastatur ablesen. Viel geeigneter dafür ist die gespannte Saite einer Violine oder Gitarre: Teilt man die Saite in der Mitte, erzeugt man einen Ton, der eine Oktave höher ist als derjenige der ungeteilten Saite. Teilt man die halbe Saite wieder – man erhält einen Viertel der Ausgangssaite –, so erzeugt man einen Ton, der wiederum eine Oktave höher ist, also zwei Oktaven höher als der von der ungeteilten Saite erzeugte Ton – ganz entsprechend dem oben angegebenen Oktavenschema.
Fortgesetzte Halbierung einer Saite ergibt jeweils
einen eine Oktave höheren Ton.
Soviel zu den Oktaven. Wie aber werden die anderen Intervalle erzeugt? Eine Quinte zum Beispiel erklingt, wenn bloss zwei Drittel einer Saite zum Schwingen gebracht werden:
Unterlegt man bei einer Länge von Zweidritteln der ursprünglichen Saitenlänge
einen Steg, so erklingt die Quinte des Ausgangstons
Eine Quarte ist die Vervollständigung der Oktave auf Basis der Quinte:
Zweidrittel einer Saite lassen die Quinte des Grundtones erklingen.
Die darüberliegende Oktave ertönt, wenn Dreiviertel der Länge der Quinte abgemessen
werden. Die Mathematik bestätigt dies: Die Hälfte ist dasselbe wie Dreiviertel von Zweidrittel.
Wie man sieht, ergeben 2/3 der ganzen Saite die Quinte, und 3/4 dieser Quinte ergeben die Quarte, welche die Oktave vervollständigt.
Die obere Oktave, welche die Hälfte der unteren ausmacht, setzt sich also zusammen aus einem 2/3- und einem 3/4-Verhältnis. Und weil wir unserer Hörerfahrung entsprechend intuitiv zusammenzählen wollen, addieren wir die beiden Zahlen: 2/3+3/4. Dies ist aber falsch. Wie man aus der Abbildung sieht, ist die Oktave 3/4-mal die Quinte, die bereits 2/3-mal die untere Oktave ist. Die korrekte Rechnung lautet:
Höreindruck: Quinte und Quarte = Oktave
Mathematisch: 2/3 mal 3/4 = 1/2
Von der Richtigkeit der mathematischen Formel überzeugt man sich durch einfaches Kürzen. Generell setzt man Intervalle also aufeinander, indem man die ihnen zugeordneten Verhältnisse multipliziert.
Eine Inversion eines Verhältnisses ist ein Richtungswechsel: 3/4 bedeutet einen Quartschritt aufwärts, 4/3 hingegen einen solchen abwärts (nämlich 4/3 einer Saite des Ausgangstones, also einer längeren und damit auch tieferen Saite).
Noch ein anders Detail müssen wir klären: Man kann Versuche an der Saite machen, indem man sie dadurch verkürzt, dass man ihr einen Steg unterlegt oder indem man wie bei einer Gitarren- oder Violinsaite durch Herunterdrücken mit dem Finger unterteilt. Eine solche Saite produziert auf beiden Seiten der Unterteilung verschiedene Töne:
Setzt man bei zwei Dritteln einer Saite einen Steg, der die beiden Verhältnisse vollständig
trennt, so erklingt auf einer Seite die Quinte des Grundklanges, auf der anderen
die Oktave der Quinte (da ein Drittel ja gerade die Hälfte von zwei Dritteln ist).
Man kann eine Saite aber auch mit einer sogenannte Flageolett-Technik verkürzen. Dazu setzt man den Finger einfach leicht auf, der einen Schwingungsknoten erzeugt. In diesem Fall erklingt auf beiden Seiten der Unterteilung derselbe Ton:
Wird wie bei der Flageoletttechnik die Saite bloss an der Stelle eines ganzzahligen
Teilungsverhältnisses berührt, so entsteht ein Schwingungsknoten.
In der Antike dürfte das Phänomen der Flageolett-Töne zur Entdeckung der Intervallverhältnisse geführt haben, und nicht etwa – wie häufig kolportiert – die Verhältnisse der Saiten der Lyra zueinander. Beim Stimmen zweier Saiten spielen ja auch Dinge wie die Saitenspannung und -beschaffenheit eine entscheidende Rolle. Die Saiten einer Gitarre sind ja auch alle gleich lang und produzieren dennoch verschiedene Töne.
Damit sind die grössten Verständnishürden eigentlich übersprungen. Die physikalischen Eigenschaften der Obertonreihe und der Tonskalen lassen sich nun leicht darlegen.
Die erste Frage ist diejenige, welche Verhältnisse die Intervalle zueinander haben. Klar scheint dies bei der Oktave: Zwei Töne im Verhältnis von 1:2 erzeugen eine Oktave. Ebenfalls einfach scheint dies bei der Quinte (2:3) und der Quarte (3:4). Für die feineren Unterteilungen können wir die Obertonreihe zu Rate ziehen:
Die Obertonreihe; die schwarzen Töne wollen
sich nicht recht in eine Tonleiterkonstruktion einpassen.
Für den Ganzton haben wir zwischen dem b und dem e eine ganze Reihe von möglichen Zahlverhältnissen: 7:8, 8:9, 9:10, 10:11. Nach welchen Kriterien wollen wir wählen? Noch verwirrender wird es, wenn wir ein Halbtonintervall definieren wollen: Wählen wir fis-g (11:12), oder g-as (12:13), oder gar die noch feineren 13:14, 14:15 oder 15:16?
Es hilft uns möglicherweise, wenn wir daran denken, dass zwei Halbtöne einen Ganzton ergeben müssen. Es gibt einen guten Grund, den Ganzton als Verhältnis 8:9 zu wählen. In diesem Fall ergeben eine Quart und ein Ganzton getreu unserer Methode, Töne aufeinander zu türmen, genau das, was sie sollen: eine Quinte:
3/4 * 8/9 = 2/3
Will man das richtige Verhältnis für einen Halbton finden und definiert man den Ganzton mit 8:9, dann gilt es, ein Verhältnis zu wählen, für das die Gleichung
a/b * a/b = 8/9
gilt. Dafür gibt es keine Lösung aus der Auswahl 11:12 bis 15:16. Es gibt überhaupt kein rationales Verhältnis dafür. Eigentlich gibt es nur eine Lösung: Wir wählen für den Ganzton statt 8:9 das Verhältnis 7:8 und akzeptieren zähneknirschend zwei ungleich grosse Halbtöne, nämlich 14:15 und 15:16. Die Gleichung lautet dann
14/15 * 15/16 = 7/8
Damit geht aber der Aufbau der Quinte aus einer Quarte und einem Ganzton nicht mehr auf, denn die Gleichung
3/4 * 7/8 = 2/3
ist falsch.
Auch ein zweites Verfahren, alle Töne der Tonleiter zu produzieren, führt ins Leere. Der bekannte Quintenzirkel. Dabei türmt man Oktaven und Quinten solange aufeinander, bis sie wieder zusammenfallen:
(Oktav- und Quintschichtung): Die Quinten fallen in einer Aneinanderreihung der Oktaven auf die
Töne G, d, a, e’, h’, f#’’ und so weiter bis f’’’’’ und c’’’’’’ – oder beinahe; die beiden
natürlichen Arten, einen Zirkel zu konstruieren fallen nicht ganz zusammen.
Das Dumme daran ist, dass die beiden Schichtungen nie aufeinandertreffen werden, wie eine einfache Reihenuntersuchung beweist. Die Oktavenschichtung stellt sich nämlich dar als
1/2 * 1/2 * 1/2 *…. * 1/2 = (1/2)n
Die Quintenschichtung jedoch hat folgende Form:
2/3 * 2/3 * 2/3 * …. * 2/3 = (2/3)n
Elementare Zahlentheorie zeigt aber, dass es keine Zahlen m und n geben kann, so dass
(1/2)n = (2/3)n
denn 2 und 3 sind teilerfremd.
Allerdings sind sich (1/2)7 und (1/3)12 derart nahe, dass man sie mit ein wenig Schummeln gleichsetzen kann. Mit gutem Argument: Wenn schon die Ganztöne und Halbtöne nicht exakt definiert werden können, dann kann man sich auch das erlauben. Zudem entspricht es dem Verhalten des Quintenzirkels, wenn die Oktave exakt in zwölf Halbtöne unterteilt wäre.
Nun stellt sich ein weiteres Problem: die exakte Halbierung der Oktave. Diese ist, wie die exakte Halbierung des Ganztones, etwas, das ausserhalb der Zahlenverhältnisse liegt, die sich als Bruch zweier natürlicher Zahlen darstellen lässt. Gesucht ist nämlich ein Verhältnis so, dass gilt:
x * x = 1/2
das heisst, zwei gleiche Töne, die aufeinandergeschichtet genau eine Oktave ergeben. Die mathematische Lösung ist keine rationale Zahl:
x = 1/√2
Die Einsicht, dass die genaue Halbierung der Oktave rational nicht darstellbar ist, hat in Indien zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen geführt als in Griechenland. Die Bewohner Hellas’ versteiften sich darauf, der Rationalität den Vorzug zu geben und eine einzige, unteilbare Wahrheit zu verkünden – auch zum Preis, dass damit die praktische Erfahrung geleugnet werden musste. Die Verfasser der indischen Veden nahmen die Befunde von Beginn als Ausgangspunkt einer pluralistischen Weltsicht: Wenn es die einzig-gültige Theorie nicht geben kann, dann sollte man die unterschiedlichen praktischen Weltsichten gleichberechtigt nebeneinander stellen – nach dem Motto «Leben und leben lassen».
Eine Möglichkeit, aus dem bestehenden Material eine befriedigende Tonleiter zu konstruieren, sieht etwa so aus:
C 15/16 d 8/9 e 9/10 f 8/9 g 15/16 a 8/9 h 9/10 c
Wenn man die Verhältnisse in natürlichen Zahlen als Unterteilungen des Verhältnisses 1:2, das heisst der Oktave, angeben will – was antiker Arithmetik mehr entspricht –, dann muss man natürliche Zahlen so finden, dass ihre Verhältnisse den angegebenen entsprechen. Wir erweitern dabei die obige Folge so, dass statt Brüche natürliche Zahlen im Verhältnis zueinander stehen. Die kleinstmöglichen ganzen Zahlen, die diese Bedingung erfüllen, lauten:
30 32 36 40 45 48 54 60
Es sind alle Zahlen, die kleiner sind als 60 und die sich in der Form 2p3q5r darstellen lassen. Geht man davon aus, dass die Oktave ein Schliessen eines Kreises bedeutet, ein Moment, von dem an sich alles wiederholt, dann kann man diese Tonverhältnisse auch als Kreis darstellen:
Der Tonartenkreis