Erste musikalische Weltschöpfungsmythen

Der Grossraum, der Indien, den Nahen Osten, Nordafrika und Griechenland umfasst, hat zwischen 3000 v. Chr. und der Zeit der biblischen Apokalypse immer wieder bemerkenswerte poetische und philosophische Werke hervorgebracht. Sie zeigen eine eigenartige Besessenheit, Mengen in exakten Zahlen anzugeben, auch wenn es dafür keinen poetischen Grund zu geben scheint.

Die Zahlenbesessenheit findet sich bereits in Schriften von Sumerern und Mesopotamiern, die bis ins dritte Jahrtausend v. Chr. zurückreichen. Am ausführlichsten äussert sich darüber aber die noch ältere frühindische Rigveda[1]. Die Dichtung – sinngemäss: Hymne des Wissens – ist der älteste erhaltene in Sanskrit verfasste Text und wurde um 1000 v. Chr. abgeschlossen. Die frühesten Teile der Rigveda wurden ursprünglich in mündlicher Form weitergegeben und erst später niedergeschrieben. Die Rigveda ist das älteste der vier Bücher der vedischen Literatur und Religion (die andern drei heissen Samaveda, Buch der Lieder, Yajurveda, Buch der Opfersprüche, und Atharvaveda, das Buch der Zauberlieder). Die Veden sind die Vorgänger der Brahmanas und Upanishaden und gelten als «göttlich» inspirierte Offenbarungen, formuliert von den heiligen Sehern (den Rishis) der Vorzeit.

Die Rigveda entwirft einen gewaltigen Mythos von der Entstehung der Welt. Voller arithmetischer und geometrischer Einzelheiten beschreibt sie, wie das Universum aus einem immerwährenden Kampf der Götter mit dämonischen Kräften entspringt. Die Vedendichter zeigen sich detailverliebt, wenn es darum geht, die genaue Anzahl Flüsse, Schritte, die gemacht werden, Berge, die entstehen, Schafe, heilige Steine und gar Rippen eines kosmischen Pferdes anzugeben.

Ein Beispiel aus dem zehnten Buch:

Und tausendköpfig, tausendäugig, tausendfüssig war der Mensch umschloss die Erde allseits, ragte über sie zehn Finger hoch. All dieses war der Mensch: war, was geworden und noch werden soll, beherrschte die Unsterblichkeit, das, was durch Speise weiterwächst.

So weit auch seine Größe reichte – mächtiger noch war der Mensch: Ein Viertel macht die Schöpfung aus, drei Viertel himmlisch-ewig sind; denn zu drei Vierteln stieg der Mensch hinauf; ein Viertel kehrt zurück; von dem ging er in alles ein, durch Nahrung und unmittelbar.

Die Strahlende entstammte ihm, doch aus der Strahlenden der Mensch. Geboren ragte über alle Erden-Enden er hinaus. Und als die Götter opferten, als sie den Menschen brachten dar, da war der Frühling Schmalz, der Sommer Brennholz, Opferspeise Herbst.

Als Opfer auf der Streu besprengten sie des Menschen Urgeburt als Opfer für sich selbst: die Götter, Seher und Vollendeten. Von diesem Opfer aufgezehrt und konzentriert zum Tropfen Schmalz schuf er sich zum Getier, das in der Luft, im Wald, im Dorfe lebt. Von diesem Opfer aufgezehrt, kam er als Vers und Lied hervor und kam als Metrum, brachte sich als Opferspruch neu zur Geburt.

Und Pferde sind aus ihm entsprungen, all die Säuger, zahnbewehrt, und Kühe kalbten sich, und Schaf und Ziege kam aus ihm hervor. Als sie den Menschen da zerlegten – wieviel Teile teilten sie? Was ward sein Mund, was seine Arme, Schenkel, Füsse sind genannt? Der hohe Lehrstand war sein Mund, zum Wehrstand ward sein Arm gemacht; sein Schenkel zum Vermehrstand ward, der Nährstand seinem Fuss entsprang; der Mond entstammt dem Hirn, in seinem Auge ging die Sonne auf dem Munde Indra, Agni auch, dem Atemhauch entfuhr der Wind.

Vom Nabel stammt der Luftraum ab, zum Himmel wölbte sich sein Haupt; den Füßen: Land; vom Ohr: Windrose stammt – so teilten sie die Welt.

Sein Wall war siebenfach, sie legten dreimal sieben Hölzer auf, die Götter, als den Menschen sie als Opfertier sich dargebracht. Im Opfer opferten die Götter ihm als dem Opfer ihn – das waren Urgesetze. Geistmächtig zogen diese in den Himmel die Götter, wo Vollendete schon lebten.[2]

Man vergleiche diese Passage einmal mit einer solchen aus dem altgriechischen Denken –  Platons «Staat». Auch da herrschen klare arithmetische Verhältnisse:

Dem göttlich Gezeugten ist ein Umlauf gesetzt, den die vollendete Zahl ihm bestimmt, für den sterblich Gezeugten aber jene Zahl, in der sich als der ersten Zahl Wurzeln und Potenzen vervielfältigen, in drei Dimensionen und vier Grenzen; Gleichheit und Ungleichheit, Mehrung und Minderung schaffen sie, und alles machen sie einander proportional und rational; ihr Grundverhältnis drei zu vier, vermählt mit der Fünf, schenkt, dreimal vermehrt, zwei Harmonien: die eine ist von gleichvielmal gleichen Zahlen, hundert ebenso oft genommen; die andere quadratisch einerseits, rechteckig andererseits; in einer Hinsicht hundertmal das Quadrat aus den rationalen Diagonalen der Fünf, aber jede um eins vermindert, die irrationalen um zwei, in der andern Hinsicht hundert Würfel der Drei. Dieses also die Zahl, geometrisch gefasst, die Herrin der guten, der schlechten Geburten! Wenn ihrer nicht achten eure Wächter, zur Unzeit vermählen den Männern die Bräute, dann werden die Kinder nicht edel und nicht selig.[3]

Damit aber noch nicht genug, denn in einem weiteren Monumentalwerk der frühen nahöstlichen Kulturen werden – wie wir noch sehen werden – ähnlich Töne angeschlagen: im biblischen Buch der Apokalypse:

Alle die arithmetischen Details in der Rigveda legen die Vermutung nahe, dass der ganze Text eine gewaltige Metapher einer bestimmten mathematischen Struktur darstellt. Aufgrund von Verbindungen zur späteren griechischen Literatur und der Tatsache, dass Kosmos, Musik und Zahlentheorie in der Philosophie Pythagoras’ zur Einheit geschmiedet sind, lässt sich die Hypothese aufstellen, dass das arithmetische System der Rigveda nichts anders ist als eine Studie der Zahlentheorie, wie sie die Obertonreihe suggeriert. Dieser Hypothese ist in jahrelanger Arbeit der am Brooklyn College der City University of New York tätige Musiker Ernest McClain nachgegangen.[4] Er glaubt, dass die Rigveda «eine Art Protowissenschaft von Zahlen und Tönen darstellt» und das Bemühen widerspiegelt, für die weiter oben skizzierten Unvereinbarkeiten zwischen Obertonreihe und Tonleiterkonstruktion eine praktische Lösung zu finden. Die folgende Darstellung der Rigveda stützt sich auf seine Erkenntnisse. Sie sind wohlüberlegt und über weite Strecken einsichtig. Dennoch sollte man sich dabei vor Augen halten, dass ihnen in vielen Aspekten ein spekulatives Element eigen ist.

Da sich nach vedischer Auffassung die Strukturen der Obertonreihe im Bau des Kosmos widerspiegeln, nähert man sich den grundlegenden Fragen der Erkenntnistheorie an. Die Musik ist in der Lage, abstrakte arithmetische Gegebenheiten mit der Welt zu verbinden, weil in der Obertonreihe gewisse Zahlen in einer Art ausgezeichnet respektive hierarchisch gegliedert werden, wie sie es innerhalb eines rein mathematischen Systems nicht sein können. Gerade Zahlen werden etwa als weiblich verstanden, ungerade als männlich. In der Folge geht es darum, innerhalb eines Systems aus natürlichen Zahlen, das mit möglichst tiefen Werten auskommt, das System der musikalischen (und im Sinn des Analogiegesetzes damit auch der kosmischen) Strukturen zu erklären.

Das zentrale geometrische Motiv der Rigveda bildet der Sonnenwagen, der das Jahr mit seinen vom Mond bestimmten zwölf Monaten verkörpert. Der Sonnenwagen hat nur ein einziges Rad mit zwölf Speichen. Gezogen wird er von zwei Pferden. Die Rigveda geht in langen mythischen Erklärungen der Frage nach, wie diese Zwölfteilung, die sich in der Zwölftonteilung der Musik spiegelt, zustande kommt.

Dabei wird vor allem eine sexuelle Metapher benutzt. Gott selber ist die Eins, die in sich ruht und nichts aus sich selber kreieren kann. Zur weiteren Kreation bedarf er des weiblichen Prinzips, der Tochter und der Mutter. Die Zahl Zwei ist weiblich und definiert die mütterliche «Matrix», innerhalb derer sich alles andere entfaltet. Aber auch sie kann aus sich selber nichts weiteres mehr kreieren. Mit sich selber multipliziert, spannt sie lediglich den Oktavenzyklus auf:

1, 1:2, 1:4, 1:8 . . .
oder
1, 2, 4, 8, 16 . . .

Um die Vielfalt zu erzeugen, braucht es die männlichen ungeraden Zahlen, die der Eins somit auch dem Göttlichen wegen des Ungeradeseins näher sind als die Zwei und ihre Vielfachen. Die Drei ist göttlich-männlich. Sie kreiert die Speichen des Rades, welche der Quinte (2:3) und der Quarte (3:4) entsprechen und dem gleichmässigen Ideal aller Unterteilungen am nächsten kommen. Die Fünf ist menschlich-männlich. Sie kreiert die Speichen, welche grosser und kleiner Terz entsprechen (4:5 und 5:6). Die Sieben wiederum spielt die Rolle einer Grenze, denn mit den bisherigen Zahlen 1, 2, 3 und 5 lassen sich – wie wir in der Einführung zum Kapitel gesehen haben – alle Töne der chromatischen Tonleiter darstellen.

McClain stellt die Hypothese auf, dass die Verfasser der Rigeveda eine bestimmte Art kannte, die Töne der Tonleiter in eine Ordnung zu bringen, nämlich tabellarisch in der Form eines sogenannten «Yantras». Yantras sind eine recht komplexe Sache und sollen uns deshalb hier auch nicht weiter beschäftigen.

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[1] Deutsche Standardübersetzung: Karl Friedrich Geldner,: Der Rigveda aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt. 4 Bände, Harvard University Press, 1951-57, Cambridge, Mass.

[2] Rigveda 10,90

[3] Platon, Der Staat, 8. Buch, 546b-d, zitiert nach der in der Universal-Bibliothek von Reclam erschienenen Übersetzung von Karl Vretska, Stuttgart 1958

[4] Ernest G. McClain, The Myth of Invariance, The Origin of the Gods, Mathematics and Music From the Rg Veda to Plato, Nicolas-Hays, York Beach, Maine 1976