Grundprinzipien des Modells

Das tropenontologische Modell der Musik wird von folgenden Grundsätzen geprägt:

  • Musik ist ein virtueller Raum: Ein Musikwerk kann als Universum betrachtet werden, in dem physikalische und kognitive Gesetze gelten. Offensichtlich ist das in der Metaphorik, die wir benutzen, um musikalische Gegenstände zu beschreiben: hoch, tief, Vordergrund, Hintergrund, Texturen, Bewegungen und so weiter und so fort. Die Objekte in einem Musikwerk werden allerdings nie vollständig und widerspruchsfrei individuiert, sie bleiben verschränkt, zerfliessen ineinander und kristallisieren nie wirklich aus. Man kann Musik deshalb auch als ein im Entstehen begriffenes akustisches Universum bezeichnen. Eine formale Definition eines musikalischen Werkes kann als ein Bündel von Weltbeschreibungen betrachtet werden, die je nachdem, für welche Variante melodischer, rhythmischer oder harmonischer Identitäten man sich entscheidet, andere Individuenstrukturen ergeben.
  • Die Grundgegenstände des Musikraumes sind Eigenschaften: Im Gegensatz zu ontologischen, extensionalen Standardmodellen, die Objekte als Grundgegenstände postulieren, geht das tropenontologische Modell von Eigenschaften als Elementen aus. Musikalische (Proto-)Objekte ‒ einzelne Töne, Melodien, Akkorde, Rhythmen und so weiter ‒ sind in der Folge definiert als Bündel von Eigenschaften. Damit können zwei fundamentale Charakteristika musikalischer Objekte intuitiv angemessen modelliert werden:
    1. Musikalische Objekte können fragmentarisch verteilt sein, sich gegenseitig durchdringen und Teil sein voneinander (sie haben den Charakter von Massentermini wie Wasser, Rot und so weiter).
    2. Einzelne musikalische Objekte sind auf unterschiedliche Domänenstrukturen verteilt. Das heisst, sie können Eigenschaften haben, die aus der physikalischen Welt, der phänomenologischen Welt (Qualia), aus Erinnerungen und eventuell weiteren Elementen bestehen.

    Die Tropen-Ontologie wird interessanterweise in neueren Deutungen der Quantenfeldtheorie (QFT) zur Beschreibung der Basiselemente physikalischer Objekte benutzt (Kuhlmann: The Ultimate Constituents of the Material World, Ontos Verlag 2010). Die innere Verwandschaft sollte nicht als eine Neufassung der antiken Idee von Musik als Widerspiegelung kosmischer Gesetze gesehen werden. Ein innerer Zusammenhang besteht aber möglicherweise, weil die Parallele Hinweise auf die Beschaffenheit genereller menschlich-mentaler Objektkonstruktionsprinzipien geben könnte.

  • Das wichtigste Konstruktionsprinzip der Musik ist die Verschränkung: Die tropenontologische Konzeption wird dem fragmentarischen Charakter musikalischer Objekte weitaus mehr gerecht als traditionelle musiktheoretische Beschreibungen. Sie anerkennt, dass der hochgradig verschränkte Charakter musikalischer Objekte (Mehrdeutigkeit von Akkorden, ineinanderfliessende Melodien, überlagerte Rhythmen und so weiter und so fort) den Charakter der Musik entscheidend prägt. Wo beginnt eine Melodie, wo endet sie? Ist eine Variation eines Motives oder auch bloss eine Transposition eine identitätswahrende Transformation? Liegen in virtueller Zweistimmigkeit, wie wir sie etwa von Bachs Partiten kennen, zwei Melodien vor? Oder doch nur eine? Sind die Töne d, fis und a Teil einer D-dur-Struktur, oder vielleicht doch bloss ein Fragment eines alterierten Fis-Dur-Septakkordes? Sind die Vierteltöne der indischen Musik bloss Verzierungen oder eigenständige Leiterstufen? Was gehört überhaupt zu den essentiellen Kennzeichen einer Melodie, was ist bloss akzidentielles Zierwerk? Aus was setzen sich in der Jazz-Harmonik Upper Structures zusammen? Was für Vexierbilder zeigen sich in Ligetis Klangflächen? Man kann die Liste endlos weiterführen, denn verschränkte und schillernde Objektstrukturen sind in der Musik nicht die Ausnahme, sondern die alles bestimmende, konstitutive Regel. Mehr noch: Sie machen die eigentliche Faszination und Lebendigkeit der Tonkunst aus.
  • An der menschlichen Wahrnehmung und Erzeugung von Musik sind eine Vielzahl an Organisationsschemata beteiligt, die sich ebenfalls ineinander verschränken:
    • Der Wahrnehmungsraum des Taktilen (Berührungen des Instrumentes)
    • Bewegungsschemata des Körpers
    • Feedback über das Gehör
    • Feedback über die Augen
    • Sprachliche Strukturen (Notenschrift…)
    • Das deklarative Gedächtnis

    • Diese Schemata sind teilautonom, können also widersprüchliche oder inkompatible Handlungsaufforderungen bewirken. Eine fundamentale Aufgabe der Musikpädagogik ist es, Studierenden Mittel mitzugeben, solche Konflikte zwischen Schemata einerseits als bedeutende Fehlerquelle beim Musizieren zu erkennen und zu beseitigen und andererseits das Verständnis der Interaktion dieser Schemata zu nutzen, um eine kohärente Spieltechnik zu entwickeln

Der Aufbau des Modelles:

  • Basis des Modelles ist das Studium von sukzessive komplexer werdenden musikalischen Universen: Wir studieren zunächst musikalische Universen, die bloss aus einem Ton bestehen, dann solche aus zwei Tönen, und so weiter (den offensichtlichen Widerspruch zur elementaren Annahme, dass die Grundgegenstandsbereiche eines musikalischen Universums Eigenschaften sind, nehmen wir dabei aus praktischen Gründen vorerst in Kauf), das heisst wir überspringen physiologische Prozesse der Auditory Scene Analysis (ASA) vorerst. Das Modell nimmt also zwar Grundsätzlichkeit in Anspruch, setzt aber erst auf einer zweiten Stufe der mentalen Weltkonstruktion an.
  • Ein Unterscheidung von physischen und psychischen Anteilen ist dabei bloss ein pragmatisches Prinzip und bedeutet keine ontologische Festlegung. Das Modell sollte es dank der Präzision und der neurologischen Fundierung der Beschreibung der Phänomene sogar möglich machen, gegebenenfalls zu entscheiden, ob und wie psychische Phänomene (zum Beispiel Qualia) ontologisch auf physische reduzierbar sind.