Die kognitiven Aspekte der Musikwahrnehmung sind dem wissenschaftlichen Experiment schwerer zugänglich als die neurophysiologischen, vor allem aus zwei Gründen: Zum Einen lassen sich kognitive Phänomene nicht direkt beobachten. Der Experimentator ist auf die Auskunft der Versuchsperson angewiesen; dabei kommen aber viele mögliche Störfaktoren ins Spiel: Etwa die Sprachkompetenz und Zuverlässigkeit einer Versuchsperson oder die Tatsache, dass nicht entschieden werden kann, ob eine Versuchsperson tatsächlich eine fragliche Wahrnehmung hat oder bloss glaubt, diese zu haben. Zum andern sind kognitive Strukturen nicht präzise messbar. Sie beschränken sich in der Regel auf qualitative Eigenheiten. So stimmen etwa alle nicht gänzlich Unmusikalischen darin überein, dass Tonleitern auf- und abwärts führen. Um wieviel genau der Schritt von d zu c grösser ist als derjenige von g zu as ist schwierig zu entscheiden, ebenso welcher Massstab dabei verwendet wird – dies ist ja schon die Einsicht Viktor Zuckerkandls.
Auch die Frage der Messbarkeit berührt ganz grundsätzliche Fragen, vor allem weil Messungen überaus exakte Aussagen zulassen, der Geist sich aber eher in einem Universum von Vagheiten und Ungefährem bewegt.
Nichtsdestotrotz sind Anstrengungen unternommen worden, Phänomene der musikalischen Wahrnehmung zu quantifizieren. Eine herausragende Position hat dabei die an der Cornell University nördlich von New York arbeitende Musikpsychologin Carol Krumhansl. Sie kann als experimentalpsychologisches Gegenstück zum Musiktheoretiker Fred Lerdahl gesehen werden. Die beiden beziehen sich denn auch gerne aufeinander und kommen auf theoretischen und praktischen Wegen zu ähnlichen Resultaten.
Krumhansl hat mit «Cognitive Foundations of Musical Pitch» ein Standardwerk der kognitiven Musikpsychologie geschrieben. In der Hauptsache geht es in dem Buch darum, die hierarchischen Strukturen zwischen Tönen und Akkorden, wie sie Lerdahl und Jackendoff in GTTM entwickelt haben, experimentell zu überprüfen und zu quantifizieren. Das grundlegende experimentelle Verfahren hat die Psychologin gemeinsam mit ihrem Kollegen Robert N. Shepard bereits in den Siebzigerjahren ausgetüftelt.
Im Grossen und Ganzen verläuft das Experiment folgendermassen: Einer Versuchsperson wird eine Tonfolge vorgespielt, auf die ein weiterer Ton folgt. Die Versuchsperson wird anschliessend gebeten, mit Hilfe einer Skala anzugeben, in welchem Mass der Folgeton die vorangehende Tonfolge vervollständigt. Spielt man etwa eine D-Dur-Tonleiter von d bis cis und als Folgeton d’ so wird die Bewertung sichtlich höher ausfallen, als wenn man nach der D-Dur-Tonleiter bis cis ein as anschliesst.
Die fehlende Präzision und Konsistenz der Urteile fängt Krumhansl mit statistischen Methoden auf: Zahlreiche Bewertungen werden zu einem Durchschnittswert verdichtet respektive miteinander korreliert. Auf diesem Weg erhält die Psychologin eine Struktur des Tonraumes, die derjenigen in «Tonal Pitch Space» von Fred Lerdahl weitgehend entspricht.
Krumhansl konstatiert, dass der menschliche Geist nicht bloss Frequenz, Amplitude, Dauer und Timbre registriert, sondern den Sinneswahrnehmungen weitere Strukturen überstülpt und Töne in einer Art im Gedächtnis ablegt, die nicht der Speicherung von reinen Sinneseindrücken entspricht. Jeder neu erklingende Ton wird in der Folge an diesen Strukturen gemessen oder in diese eingepasst: «Die Experimente zeigen, dass die musikalische Kapazität der Menschen in der Fähigkeit liegt, Tonereignisse dynamisch aufeinander zu beziehen und die Vielfalt der strukturellen Funktionen der Ereignisse auf zahlreichen Ebenen gleichzeitig zu verstehen»[1], fasst sie ihre Einsichten zusammen.
Man kann Krumhansl Experimente und die Schlüsse daraus als eine machtvolle und offensichtliche Widerlegung des behavioristischen Ansatzes betrachten. Was jedem Musiker selbstverständlich ist und auch Carl Seashore auf kritische Distanz zu behavioristischen Lehre gehen liess, findet hier eine präzise Formulierung in der Sprache der «positivistischen» Naturwissenschaften.
Krumhansl setzt sich übrigens mit der Konzeption Jackendoffs[2] in Konflikt, wenn sie ergänzt, dass an keinem Punkt eine einzelne oder korrekte Analyse der Strukturen benötigt wird, um Musik verstehen zu können. Wie wir gesehen haben, ist eine solche aber Voraussetzung für die Art von Parsingstrategien, die Jackendoff in dem Artikel «Musical Parsing and Musical Affect» so betont.
Ein weiteres Ergebnis der Experimente: Es besteht offenbar eine enge Beziehung zwischen der Häufigkeit, mit der ein Ton erklingt, und seiner Stellung in der kognitiven Hierarchie. Dies könnte die Meinung stützen, nach welcher der menschliche Geist die Hierarchie der Töne aus den statistischen Verteilungmustern schliesst. Eine Vermutung, die vor Krumhansl bereits Leonard B. Meyer ausgesprochen hat.
Krumhansl hat nicht nur auf experimentellem Gebiet wertvolle Arbeit geleistet. Sie hat auch die Struktur der tonalen Organisation von der theoretischen Seite her genauer unter die Lupe genommen und einige überaus interessante Eigenschaften unseres Tonleitersystems entdeckt.
Die Dur-Tonleiter folgt bekannterweise dem Muster Ganzton, Ganzton, Halbton, Ganzton, Ganzton, Ganzton, Halbton. Wenn man alle Intervalle auszählt, die dabei zwischen zwei beliebigen Tönen vorkommen, so erhält man folgende Liste:
2 kleine Sekunden (respektive grosse Septimen)
5 grosse Sekunden (resp. kleine Septimen)
4 kleine Terzen (resp. grosse Sexten)
3 grosse Terzen (resp. kleine Sexten)
6 Quarten (resp. Quinten)
1 Tritonus
Man kann diese Verteilung in Form eines Vektors folgendermassen schreiben: <2,5,4,3,6,1>.
Der Vektor hat einige interessante Eigenschaften, deren man sich erst wirklich bewusst wird, wenn man ihn durch die Brille der Statistikerin betrachtet. So kommen etwa die am wenigsten dissonanten Intervalle am häufigsten vor, die zwei dissonantesten hingegen sind die rarsten. Zudem ist jeder Eintrag in dem Vektor einzigartig, das heisst es gibt keine zwei unterschiedliche Intervalle, die gleich häufig vorkämen. Zudem kommt jedes Intervall mindestens einmal vor. Damit nicht genug. Die Anordnung der Intervalle erlaubt es, mit der Erhöhung einer nahe der Mitte der Tonleiter gelegenen Stufe um einen Halbton rekursiv den gesamten Zyklus der zwölf Tonarten zu erzeugen.
Ein kleine Überraschung erlebt man, wenn man versucht, eine andere Tonleiter zu finden, die über eine vergleichbare Reichhaltigkeit und Ausgewogenheit verfügt. Verlangt man, dass alle Intervalle innerhalb eines Oktavumfanges mindestens einmal in einer Tonleiter vorkommen und jeder Eintrag einzigartig ist, so stellt man fest, dass die Tonleiter genau sieben Stufen haben muss. Sind es weniger, wird ein Intervalltypus fehlen, sind es mehr, werden mindestens zwei Intervalltypen gleich häufig vorkommen. Ein ähnlich ideale Situation zeigt sich in Sachen Akkorde, die auf Basis der Tonleiter gebildet weden können. Unsere Dur-Tonleiter ist also eine Art Optimum in Sachen statistischer Verteilung wichtiger Eigenschaften, ein Idealmodell, das sich durch die Jahrhunderte des Musizierens unbewusst ausgebildet hat.
Man muss sich nun aber hüten, dies als Beweis für die Natürlichkeit oder Gottgegebenheit der tonalen Musik zu sehen. Die Eigenschaften beudeuten nämlich nicht, dass man mit der Dur-Tonlieter die schönste und «natürlichste» Musik schreiben kann. Sie zeigen bloss, dass hierarchische Strukturen am besten mit Hilfe einer Dur/Moll-Tonalität konstruiert werden können. Es sind von Komponistinnen und Komponisten aber noch viele andere, ebenso «natürliche» Architekturprinzipien entwickelt worden, die nicht minder interessante und bewegende Musik hervorgebracht haben.
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[1] Carol L. Krumhansl, Cognitive Foundations Of Musical Pitch, Oxford University Press, Oxford 1990, Seite 284
[2] Ray Jackendoff, «Musical Parsing and Musical Affect», Music Perception 9, Seiten 199-230