Harmonik als grammatikalische Grundstruktur
Die Grundlagen für das Dur/Moll-System, das die abendländische Tonkunst in der Neuzeit bestimmen wird, hat der Musiktheoretiker Zarlino bereits Mitte des 16.Jahrhunderts gelegt. Die Ideen zu einer ausgewachsenen Theorie der modernen Harmonik bleiben allerdings dem französischen Komponisten und Theoretiker Rameau vorbehalten. Von ihm stammen die wesentlichen Pfeiler, die lange unverrückbar bleiben und erst Ende des 19.Jahrhunderts von Hugo Riemann weiterentwickelt werden. Er denkt ein Projekt konsequent durch, das in der Renaissancezeit mehr oder weniger explizit in Angriff genommen worden ist: die Fundierung der Musik auf einem System der Grammatik.
Um aufzuzeigen, wie die Grammatik-Metapher in der Musik funktioniert, braucht es in erster Linie zwei Typen von Grammatiken. Die eine – als «Webgrammatik» bezeichnet – wird heute vor allem auch in der Beschreibung formaler Sprachen in mathematischer Modelltheorie oder theoretischer Informatik genutzt. Die zweite, die «generative Grammatik», soll uns etwas später in diesem Kapitel beschäftigen.
Eine Webgrammatik besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen:
- Aus Grundelementen, die bloss einzelne Zeichen, aber auch ganze Wörter sein können. Für unsere Zwecke lassen wir offen, was genau zutrifft.
- Aus Regeln, die angeben, wie man aus den Grundelementen weitere Elemente («Sätze») produziert.
Ein Beispiel: Man verfüge über fünf Grundelemente und eine Regel:
Ding = {Hund, Katze, Maus}
Tätigkeit = {packt, ärgert}
Regel: Ein Satz wird folgendermassen gebildet: <Ding Tätigkeit Ding>
In dem Minibeispiel sind unter anderem «Hund packt Katze» und «Katze packt Maus», aber auch «Maus ärgert Hund» und sogar «Maus packt Hund» der Regel entsprechend gebildete Sätze, nicht aber «Maus frisst Hund Katze» oder «Katze ärgert». Wenn man Dinge und Regeln verfeinert und komplexer macht, kann man immer differenziertere Sätze zulassen. So könnte zum Beispiel eine Regel eingefügt werden, nach der aus einer Tätigkeit eine neue erzeugt werden kann, indem man an sie ein «-e» anhängt. Dann wären Sätze wie «Hund ärgerte Maus» möglich, die man als Vergangenheitsform deuten könnte.
Webgrammatiken bilden das exakt ab, was wir intutitiv als Bilden von Sätzen oder als korrektes Sprechen bezeichnen. Wir reihen nach bestimmten Regeln Grundbausteine (Wörter) aneinander, und der Sinn des Satzes, den wir äussern, hängt offensichtlich einerseits von den verwendeten Wörtern ab, anderseits von der Art, wie sie aneinandergereiht werden. In der Musik machen wir scheinbar etwa Ähnliches: Wir reihen Grundelemente (Akkorde, melodische Motive) aneinander, und der musikalische «Sinn» (was auch immer das sein soll) ändert sich, je nachdem, welche Akkorde und Motive wir verwenden und in welcher Reihenfolge sie stehen. Bestimmte Reihenfolgen sind dabei unmusikalisch. Welche, darüber entscheiden die Regeln, die sich in Lehrbüchern der Harmonik und des Kontrapunktes finden. Ein solches System funktioniert allerdings erst dann in einem grammatischen Sinn, wenn die Grundelemente in Form eines Vokabulars standardisiert sind und darüber in einer Gemeinschaft ein Konsens besteht. Auf der Ebene der Syntax ist dies im praktischen Alltag weitgehend der Fall: Klassische Harmonik, Jazzharmonik und andere Systeme standardisieren musikalische Elemente derart, dass sich Musiker über musikalische Elemente im Rahmen sinnvoller Konventionen austauschen können ‒ etwa in Form von Akkordsymbolen oder Namen für Rhythmen.