Die harmonische Grammatik findet ihre Perfektionierung und ihre heute noch gelehrte Form in den Werken von Hugo Riemann, die um die Wende vom 19. zum 20.¨Jahrhundert entstehen. Dass die Weiterentwicklung der rameauschen Ideen so lange auf sich hat warten lassen, hat einen historischen Grund: Zwar hat Rameau die wesentlichen Elemente der Funktionsharmonik bereitgestellt. Sein aufbrausendes und rechthaberisches Wesen erweisen der Verbreitung seiner Ideen jedoch eine Bärendienst. Im Alter beginnt er zu vereinsamen und sich mit allen anzulegen. So weigert er sich, für die berühmte französische «Encyclopédie» einen Artikel zu schreiben, und er lässt sich mit deren Protagonisten D’Alembert und Rousseau auf fruchtlose intellektuelle Scheingefechte ein. Das Ganze endet in gegenseitigen Beschuldigungen der Inkompetenz. Niemand hat in der Folge mehr grosse Lust, sich auf Rameaus Ideen wirklich einzulassen oder für diese eine Lanze zu brechen. Das Generalbasssystem überlebt auf theoretischer Ebene deshalb wesentlich länger als nötig.
Hugo Riemann sieht sich also wegen barocken Querulantentums noch Ende des 19. Jahrhunderts vor einer Situation, die er im Vorwort zur dritten Auflage seines «Handbuches der Harmonielehre» folgendermassen beschreibt:[1]
Dass es sehr schwer sein würde, die seit nunmehr fast drei Jahrhunderten in der ganzen zivilisierten Welt eingebürgerte Generalbassmethode durch eine gänzlich neue Methode des Harmonie-Unterrichts zu ersetzen, war mir vollkommen klar, als ich im Jahre 1880 meine «Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre» herausgab. Trotz dieser Überzeugung bin ich nicht dem Rate wohlmeinender Freunde gefolgt, welche einen Mittelweg empfahlen, nämlich eine vorsichtige Vorbereitung der angestrebten Reformen durch allmähliche Umgestaltung der Generalbassbezifferung.
Rameau hat zur Theorie der Harmonik die Lehre von den Akkordumkehrungen und die Fundamente für die Dur/Moll-Tonalität beigesteuert. Das System wird durch Riemann komplettiert, der ihm die Lehre von den Funktionen Tonika, Dominante und Subdominante und vor allem die Idee der Kadenz hinzufügt.
Leider kann man Riemanns Gedankengebäude nicht ohne einen wichtigen Exkurs zu seiner Konstruktion der Molltonleiter darlegen, und ausgerechnet diese bildet den Wermutstropfen in seinen brillanten Gedankengängen. Mit seiner Konzeption der Dur/Moll-Dualität verrennt sich Riemann nämlich in eine Idee, die weder theoretisch noch praktisch von irgendwelchem Nutzen ist, ihn aber an einer konzisen und eleganten Beschreibung der Molltonalität hindert. Da er seine Vorstellung auch formal konsequent durchhält, landet er schliesslich bei kontraintuitiven Behauptungen. deren Verteidigung streckenweise die Züge einer wissenschaftlichen Realsatire annehmen.
Die Grundlage seiner Vorstellung vom Ursprung des Mollakkordes bildet eine spekulative Untertonreihe.
Die bekannte, physikalisch einfach feststellbare Obertonreihe fundiert nach allgemeiner Übereinstimmung den Dur-Akkord.
Abbildung 1: Obertonreihe, aus der Riemann den Durklang ableitet.
Die Obertöne 4, 5 und 6 bilden zusammen den Durakkord (im Beispiel den Akkord c – e – g).
Statt Molltonleiter und Mollakkord als Paralleltonart auf der sechsten Stufe der Durtonleiter zu definieren, wie dies heute allgemein üblich ist, postuliert Riemann eine spekulative Untertonleiter:
Abbildung 2: Spekulative Untertonreihe, aus der Riemann den Mollklang ableitet.
Die Behauptung: Unter jedem Ton klingen sogenannte Untertöne mit, die eine exakte Spiegelung der Obertonreihe darstellen. Der Mollakkord wird dabei analog aus den Untertönen 4, 5 und 6 abgeleitet, in dem Beispiel also a – c – e.
Bei seinen Zeitgenossen und späteren Generationen stösst Riemann damit auf wenig Gegenliebe. Trotz aller Kritik und der offensichtlichen Schwierigkeit, die Existenz einer Untertonreihe physikalisch nachzuweisen, bleibt Riemann bei seiner Überzeugung – selbst gegen alle Widersprüche. In seiner ansonsten äusserst modern, ja avantgardistisch anmutenden Schrift «Musikalische Syntaxis»[2] beschreibt er zum Beispiel die Bemühungen, am Klavier eine Untertonreihe hörbar zu machen:
Ich mache die eigentümliche Erfahrung, dass ich auf dem Pianoforte bei Angabe eines g’, welches ich sofort nach starkem Anschlag dämpfe, schwach aber deutlich, freilich sehr schnell verschwindend c höre, von welchem Tone ich durch Herabdrücken der Takte den Dämpfer gehoben habe. Dieses c hat genau den ätherischen, körperlosen Klang wie die Kombinationstöne und ist leicht mit seiner höheren Oktave (c’) zu verwechseln. Ich gedenke diese Versuche noch vielfach zu wiederholen, um die Resultate sicherzustellen: gelingt dies, so sind wir einen grossen Schritt weiter; denn nicht nur c höre ich im obigen Fall, sondern auch Es, und sonderbarer Weise sprechen gerade die umsponnenen Saiten ganz vortrefflich an und tönen länger nach als die einfachen. Ob nun diese leise mitklingenden Untertöne nur ein Accidens der partiellen Schwingungen der Saiten beim Mittönen sind, oder aber ob die Untertöne schon im Klange der ursprünglich angeschlagenen Saite enthalten sind, das mögen mathematische Mechaniker genauer nachweisen.
In einer Beilage zur «Musikalischen Syntaxis» insistiert er:
Prof. von Oettingen [gemeint ist sein Lehrer Arthur von Oettingen] teilt mir mit, dass es ihm auch bei nächtiger Stille auf seinem Flügel von Breitkopf und Härtel (der meine ist von Ernst Irmler) nicht gelungen sei, die Untertöne zu hören. Andererseits habe ich aber von mehreren jungen Freunden Nachricht bekommen, dass ihnen das Experiment sofort geglückt ist. Wie dem auch sei und wenn alle Autoritäten der Welt auftreten und sagen «wir hören nichts», so muss ich ihnen doch sagen «ich höre etwas und zwar etwas sehr deutliches». Prof. v. Oettingen bezweifelt übrigens meine Entdeckung nicht, kann sie mir nur einstweilen noch nicht [!] nachhören.
Das sture Festhalten am Untertonprinzip greift tief in die Struktur der Riemannschen Musiktheorie, etwa wenn es darum geht, Kadenzen zu bilden. Die grundlegende Dur-Kadenz gibt Riemann im Einklang mit dem Rest der Musikwelt als Folge von erster Stufe, vierter Stufe (Quart höher), fünfter Stufe (Quint höher) und erster Stufe an (I-IV-V-I). Da bei der Molltonart aber nach unten geblickt wird, definiert er gegen alle musikalische Intuition und den Rest der Fachwelt die Mollkadenz als erste Stufe, fünfte Stufe (Quart abwärts), vierte Stufe (Quint abwärts) und erste Stufe (I-V-IV-I). Die Konsequenz ist absehbar, lässt ihn aber unbeeindruckt, wie er in der «musikalischen Syntaxis» erklärt:
Für Durchführung reiner Mollharmonik auch in der einfachsten Weise kann ich leider aus unserer gesamten Musikliteratur auch nicht ein Beispiel beibringen; Ansätze dazu, die aber immer wieder ins Mischgeschlecht mit dem antinomen Wechsel verfallen, finden sich dagegen sehr häufig bei Schubert, Schumann, Volkmann, Grieg u.a. Ich kann daher nur auf meine Bearbeitung schottischer Lieder der Beethovenschen Sammlung (op. 22) für gem. Chor verweisen, welche bis jetzt noch ungedruckt sind, vielleicht aber bei Veröffentlichung dieses Schriftchens auch einen Verleger gefunden haben werden; andernfalls versende ich gerne autografierte Exemplare der Partitur gratis an Freunde der Theorie.
In der «Musikalischen Logik»[3] von 1873, der Veröffentlichung seiner Dissertation, bezeichnet Riemann sein Unternehmen unmissverständlich als die Suche nach einer Grammatik der Musik:
Ohne mir selbst vollständig begrifflich klarzumachen, was ich eigentlich suchte, habe ich ganz allmählich eine Art musikalischer Grammatik entwickelt, welche ähnlich wie eine sprachliche Grammatik in den Begriffen «Subjekt», «Prädikat» und so weiter in den harmonischen Begriffen Tonika, Dominante, Subdominante und so weiter die Elemente handhaben lehrt, über welche die musikalische Logik verfügt, um musikalische Sätze zu bilden.
Darin unterteilt er die Akkorde, die sich von jeder Stufe der Dur-Tonleiter aus bilden lassen, in solche mit der Funktionen einer Tonika (Basis), einer Dominante (auf der fünften Stufe) und einer Subdominante (auf der vierten Stufe). Die Beispielkadenz
I – IV – I – V – I
deutet er als «musikalischen Gedanken» in dem das Auftreten der I nach der IV die Funktionen einer Antithese hat und das Auftreten der V diejenige einer Synthese. In der «Musikalischen Syntaxis» von 1877 entscheidet sich Riemann allerdings für ein Modell, das an das hegelsche Dreigestirn These – Antithese – Synthese angelehnt ist. Ausdrücklich lehnt er nun eine Struktur in der Form Subjekt/Prädikat ab. Die Subjekt/Prädikat-Metapher skizziert er kurz, indem er die Tonika als Subjekt setzt und das Prädikat als deren Bestätigung durch Quint- und Terzklänge definiert. So etwas führe, meint er, allerdings zu nichts.
Riemanns musikalische Syntax bildet das Modell einer Webgrammatik weitgehend auf musikalische «Gedanken» ab. Die Terminologie, die er dabei verwendet, ist ohne etwas Aufwand heute jedoch kaum mehr nachvollziehbar.
—————————–
[1] Hugo Riemann, Handbuch der Harmonielehre, sechste Auflage, Leipzig 1918, Seite VII
[2] Hugo Riemann, Musikalische Syntaxis, Grundriss der harmonischen Satzbildungslehre, Breitkopf und Härtel, Leipzig 1877
[3] Hugo Riemann, Hauptzüge der physiologischen und psychologischen Begründung unseres Musiksystems, Verlag von C. F. Kahnt, Leipzig o.J. (Als Dissertation unter dem Titel: «Ueber das musikalische Hören», 1874)