Die biologischen Rahmenbedingungen

In vielen Köpfen spukt die mehr oder weniger durchdachte Überzeugung herum, dass die Fähigkeit, Musik als solche zu verstehen und zu erzeugen, etwas ist, was den Menschen von Tieren abgrenzt. Nach den Argumenten von Hoerners zu den prinzipiellen physikalischen Arten, wie man akustische Phänomene organisieren kann, verlagert sich damit das Interesse auf die Beschaffenheit der konkreten Wahrnehmungs- und Verarbeitungsorgane von Lebewesen.

Der Schritt ist ein doppelter, weil nicht bloss darüber nachgedacht werden muss, wie und ob Musik als akustisches Phänomen produziert werden kann, sondern, ob sie auch als solche verstanden wird. Ein Vogel ist zum Beispiel in der Lage, kunstvolle Melodien zu erzeugen. Aber erlebt er sie auch als «Musik»? Wale modifizieren über längere Zeiträume ihre Gesänge. Aber sind es wirklich «Gesänge» für die Meeresbewohner? Wenn man den Tieren die Fähigkeit absprechen will, ihre eigenen akustischen Kunstgebilde als Musik zu erleben (wofür die Intuition eigentlich spricht), so muss man auch explizit machen, welche notwendigen Bedingungen man dafür aufstellt, dass etwas Musik ist, und so stehen wir wieder auf Feld Eins unseres imaginären Spielbretts.

Theoretische Überlegungen zu den biologischen Rahmenbedingungen sind in der Geschichte der Musikästhetik auffallend wenige angestellt worden. Extensiv diskutiert haben Biologen, Anthropologen, Ethnomusikologen und andere das Thema im Mai 1997 anlässlich eines Treffens im Institut für Biomusikologie im nahe Florenz gelegenen Fiesole. Eines der Resultate ist der Artikel «The Necessity of and Problems with a Universal Musicology» des französischen Komponisten François-Bernard Mâche[1]. Er macht einige bemerkenswerte Überlegungen zu möglichen Kriterien, die akustische Äusserungen von Tieren und menschlicher Musik auseinanderhalten helfen könnten.

Rhythmische Organisation etwa ist kein spezifisch menschliches Phänomen. Laut Mâche sind einige Vögel durchaus in der Lage, rhythmische Funktionen über grössere Zeiträume zu organisieren. Da ist zum Beispiel Turtur brehmeri, eine afrikanische Taubenart, die lange Accelerandi produziert – die Reihe beginnt mit Distanzen von 2,2 Sekunden. Mâche erwähnt aber auch Sarothura-Lugens, eine Zwergkrallenart, die Accelerando, Crescendo und immer mehr in die Höhe Steigen kunstvoll kombiniert. Einige Vogelarten scheinen also in der Lage zu sein, regelmässige Zeitabstände präzise zu produzieren. Weniger wahrscheinlich scheint, dass sie (oder irgendwelche andere Tierarten) auch fähig wären, ein Zeitraster hierarchisch zu ordnen, also schwere und leichte Zeiten zu unterscheiden.

Ein weiteres, oft angeführtes universales Kennzeichen von Musik ist die Benutzung von Skalen, das heisst, von fest definierten, wohlunterschiedenen Tonhöhenklassen. Auch solche kommen in der Tierwelt vor, wie Mâches Beispiele zeigen. So kennt etwa Hacyon badus, eine Eisvogelart, ein eigenes System aus sehr kleinen Intervallen, und Cossypha Cyanocampter, eine Drosselart, baut innerhalb ihres Skalensystems so raffinierte Melodien, dass man sie mit menschlichen Kreationen verwechseln könnte. Erythropygia leucosticta benutzt eine chromatische Skala, innerhalb derer sogar artikulatorische Variationen eingebracht werden. Bei einigen Vogelarten, vor allem Rotkehlchen, gibt es sogar unseren Grundtönen vergleichbare ausgezeichnete Tonstufen.

Wenn man Musik hinreichend als etwas definiert, was Rhythmus oder skalenbasierte Melodik besitzt, so muss man zum Schluss kommen, dass Musik – zumindest in rudimentärer Form – auch im Tierreich vorkommt. Diesen Schluss legt Mâche nahe:

In vielen Fällen teilt die Syntax tierischer Signale eindeutig Eigenschaften mit Musik. Ich glaube, dass alle Prozesse, die Wiederholungen nutzen – ein offensichtliches musikalisches Universal – in der Tierwelt vorgefunden werden können: Refrain, Reim, Symmetrie, Reprise, Liedform, Barform und so weiter.[2]

Zudem, so Mâche, ist es offensichtlich, dass einige Vogelarten auch zum blossem Vergnügen singen. In der Folge spekuliert er darüber, wie eine ursprünglich mit einem evolutionären Vorteil verbundene Fahigkeit sich sozusagen fliessend zum Selbstzweck wandelt.

Die Kultur als etwas zu sehen, was in einer natürlichen Funktion wurzelt und sich vorzustellen, dass es über den puren Überlebenszweck hinauswuchs, hat für eine grosse Zahl der Biologen und Musiker natürlich etwas Häretisches. Ich überlasse die Entscheidung dem Aufnahmegerät und kann bloss sagen, dass ich als Komponist Craticus nigrogularis als eine Art Kollege betrachte.[3]

Interessant ist der implizite Wechsel der Kriterien dafür, was Musik ist und was nicht, der in dem Artikel vollzogen wird. Er geht von äusseren Merkmalen zu einer notwendigen funktionellen: Musik ist etwas, was – um mit Kant zu sprechen – interesseloses Wohlgefallen weckt. Ob man nun mit Mâches Beispielen im Einzelnen einverstanden ist oder nicht: Seine Argumentation zeigt, dass formale, äusserliche Merkmale von Musik nie zuverlässig dazu dienen können, Musik so zu definieren, dass man sie als Abgrenzungskriterium zwischen Tier- und Menschenreich benutzen kann.

Die Frage ist, ob man das überhaupt will. Es drängt sich insofern auf, als uns unsere Intuition sagt, dass Musik irgendetwas mit einer hohen kognitiven und intellektuellen Form von Erleben und Reflektieren zu tun hat und man einem Tier diese Art der Reflektion nicht zugestehen möchte. Auf der Suche nach einer Definition von «Musik» sind wir damit aber keinen Schritt weiter: Sie kann nicht auf äusserliche Merkmale musikalischer Kunstwerke zurückgreifen. So wie von Hoerners Charakterisierung aufgrund struktureller Merkmale zu eng ausfiel, fallen die von Mâche erwähnten Kriterien der metrischen und Tonhöhenklassen-Organisation zu weit aus, und der Eindruck verstärkt sich, dass die Grenzziehung mit diesen Instrumenten immer hilfloser und ad hoc konstruiert ausfallen, ohne dass man die Sache auf den Punkt bringt. Es scheint, dass eine brauchbare Definition von «Musik» in irgendeiner Art von der Funktion, die Musik hat, motiviert sein muss.

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[1] François-Bernard Mâche, «The Necessity of and Problems with a Universal Musicology», in: Nils L. Wallin, Björn Merker, Steven Brown (Hsg.), The Origins of Music, MIT Press, Cambridge (Mass.) 2000, Seiten 473-479

[2] a.a.O., Seite 478

[3] a.a.O., Seite 479, meine Übersetzung