Nach Keplers gründlicher Diskussion der Planetenordnung bewegt sich in der Theorie der Sphärenharmonie relativ wenig, bis der Physiker Johann Titius 1766 eine erstaunliche Entdeckung zu machen glaubt. Der in Wittenberg geborene Universitätsprofessor, der auch den ersten Blitzableiter errichtet haben soll, weist in einer Fussnote zu einem Buch auf eine Eigentümlichkeit der Planetenanordnung hin. Die Anmerkung wird 1772 von dem ebenfalls deutschen Astronomen Johann Elert Bode aufgegriffen, seither ist sie als Titius-Bode-Reihe bekannt.
Eine ihrer Versionen lautet:
A=0,4 + 2n*0,075
n steht dabei für die Reihe der natürlichen Zahlen, beginnend bei Merkur mit 1, A für den mittleren Abstand. Die Venus erhält die 2 und so weiter die Reihe der Planeten aufwärts. Der Abstand der Erde zur Sonne wird dabei automatisch zur Einheitsstrecke.
Abstand Sonne/Erde = 0,4+8*0,075 = 1
Der Abstand der Sonne zur Venus berechnet sich analog:
Abstand Sonne/Venus = 0,4+4*0,075 = 0,7
Derjenige der Sonne zum Mars:
Abstand Sonne/Mars = 0,4+16*0,075 = 1,6
Die Entdeckung des Uranus 1781 durch Herschel, also ein paar wenige Jahre später, schien die Formel aufs Schönste zu bestätigen. Allerdings zeigte sich eine auffallende Lücke in der Reihe der bis dahin bekannten Planeten.
Die Titius/Bode-Zahlen aller Planeten – so erweitert, dass sie zu natürlichen Zahlen werden – lautet folgendermassen (gleich daneben finden sich die heute bekannten tatsächlichen Abstandsverhältnisse):
Merkur | 4 | 3,9 |
Venus | 7 | 7,2 |
Erde | 10 | 10 |
Mars | 16 | 15,2 |
? | 28 | ? |
Jupiter | 52 | 52 |
Saturn | 100 | 95,5 |
Uranus | 196 | 192 |
Es schien aufgrund der Reihe, dass sich zwischen Mars und Jupiter noch ein weiterer Planet verbergen müsste, und alles was Rang und Namen hatte in der Astronomie machte sich auf die Suche nach einem solchen. Im September 1800 kommt es zu einem historischen Treffen in der privaten Sternwarte des Bremer Verwaltungsbeamten Johann Schröter. Schröter, sein Assistent Karl Ludwig Harding, der Baron Franz Xaver von Zach – ein Freund Herschels – und der Amateur Heinrich Olbers gründen die «Himmlische Polizey», mit dem Ziel, den Himmel systematisch nach dem prognostizierten Körper abzusuchen. Brieflich werden dazu auch die Fachleute in ganz Europa ermuntert.
Die Aufforderung erreicht auch Giuseppe Piazzi an der Sternwarte im fernen Palermo. Piazzi hat dem berühmtesten Teleskopbauer, dem Engländer Jesse Ramsden, in nützlicher Zeit ein Meisterwerk der modernen Optik abgerungen. Dies ist eine Leistung, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel die Universität Dublin 27 Jahre auf eine Bestellung bei dem fanatischen Perfektionisten warten musste und man in der Sternwarte Greenwich nach sechs Jahren Warten entnervt das Handtuch warf und den Auftrag stornierte.
Piazzi beginnt mit der Vermessung von einigen tausend Fixsternen und entdeckt dabei am 1. Januar 1801 im Sternbild des Stiers ein Lichtpünktchen, bei dem es sich nicht um einen Stern handeln könnte und das in den folgenden Nächten offenbar auch wandert. Die Beobachtungen Piazzis finden den Weg zu Zach, der sie in seiner «Monatlichen Correspondenz» veröffentlicht. Dort finden sie das Interesse von Carl Friedrich Gauss, des Johann Sebastian Bach der Mathematik, dessen Konterfei den mittlerweile aus dem Verkehr gezogenen Zehnmark-Schein geziert hat.
Gauss berechnet auf Grund der wenigen Daten von Piazzi die vermutliche Bahn des Himmelskörpers. Am 31. Dezember 1801 gelingt eine erneute Sichtung des Objekts, dem Piazzi mittlerweile den Namen «Ceres» gegeben hat. Bald darauf entdeckt man in der Nähe von Ceres einen zweiten Körper – er erhält den Namen «Pallas» – und 1804 einen dritten, der «Juno» getauft wird. Bis in unsere Zeit sollen noch weitere 10000 hinzustossen – der sogenannte Asteroidengürtel ist entdeckt – mehr oder weniger dort, wo die Himmlische Polizey einen weiteren Planeten vermutet hat.
Die später entdeckten Planeten Neptun (1846 durch Galle) und Pluto (Tombaugh, 1930) ordnen sich jedoch überhaupt nicht in die Titius-Bode-Reihe ein. Sie hat deshalb auch schnell an Bedeutung verloren:
Neptun | 388 | 300 |
Pluto | 772 | 394 |
Zunächst scheint die Titius/Bode-Reihe ein Bestätigung der himmlischen Harmonie zu bedeuten. Dies ist aber nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung der Fall. Bemerkenswerterweise definieren nämlich nur wenige der Titius/Bode-Verhältnisse brauchbare musikalische Intervalle. Zwischen Merkur und Mars herrscht mehr oder weniger ein Verhältnis von 1:4, das zwei Oktaven umfasst. Zwischen Jupiter und Saturn herrscht beinahe ein Oktavverhältnis, die Abweichung beträgt allerdings rund vier Prozent, geht also haarscharf an der Grenze zu einer grossen Septime vorbei. Dasselbe gilt für das Verhältnis von Saturn zu Uranus und Neptun. Venus definiert mit dem Rest der Planeten wegen der 7 keine brauchbaren Intervalle, auch die Asteroiden haben eine 7 in der Primfaktorzerlegung (28 = 22*7).
Zur Idee der Sphärenharmonie sind einige Schlussbetrachtungen zu machen, nicht zuletzt, weil die Idee vor allem in esoterischen Kreisen nach wie vor weitermottet. So hat sich bis vor kurzem offenbar nie jemand wirklich Gedanken darüber gemacht, wie weit entfernt zum Beispiel eine Zuordnung der Beziehung zweier Planetenabstände zu einfachen Zahlenverhältnissen zu einem Zufallstreffer ist.
Um schon nur eine vage Idee davon zu bekommen, welche Genauigkeiten erreicht werden müssen, wenn man deutliche Abweichungen von Zufallswerten erhalten will, überlege man sich Folgendes: Man idealisiere einmal die Planetenbahnen und denke sie sich als konzentrische Kreise rund um die Sonne. Man denke sich überdies etwa einen Planeten an einem beliebigen Ort zwischen Sonne und einen andern Planeten platziert. Wie gross ist dann die höchste maximal mögliche Abweichung von einem der konzentrischen Kreise, die von den zwölf Halbtönen definiert wird?
Die Planetenabstände über einem ideal gewählten Halbtonraster. Nimmt man zum Beispiel den Abstand Sonne-Uranus als Oktave an, so weichen zufällig dazwischen platzierte Planeten höchstens um rund 4 Prozent der Oktavdistanz von der Distanz eines Halbtons ab.
Der Abstand zwischen zwei Halbtönen beträgt ein Zwölftel, wenn der Abstand zwischen Sonne und dem äusseren Planeten eine Einheitsstrecke ist. Befindet sich ein zweiter Planet also so weit wie möglich von einem der Halbtonkreise entfernt, dann muss er genau in der Mitte zwischen zweien zu liegen kommen. Damit beträgt sein Abstand aber die Hälfte von einem Zwölftel, also ein Vierundzwanzigstel. Dies entspricht aber genau der maximalen prozentualen Abweichung. Mit andern Worten: Das Verhältnis zweier zufällig gewählter Abstände von Planeten zur Sonne weicht maximal 4,16 Prozent von einem Tonverhältnis ab. Maximal! In der Regel dürfte es kleiner sein, und wenn man auch nur sieben Planeten betrachtet, so dürften einige davon in einem scheinbar verblüffend genauen Tonverhältnis zueinander stehen. Es ist auch wie bei der Zuordnung der Zahl 666 zu den Namen der römischen Kaiser in der Johannes-Offenbarung: Mit ein bisschen Fantasie lässt sich alles machen.
Zu den Zeiten Keplers gab es die Wahrscheinlichkeitsrechnung noch nicht, und dem Astronomen wäre es nicht in den Sinn gekommen, genau nachzuprüfen, wie weit seine Konstruktionen denn von einem reinen Zufallsergebnis entfernt sein könnten. Interessanterweise hat auch später niemand derartige allgemeine Überlegungen angestellt. Erst 2001 hat der deutsche Autor Hartmut Warm das Problem einer umfassenden wahrscheinlichkeitstheoretischen Untersuchung harmonikaler Systeme in Angriff genommen[1] – mit vernichtenden Resultaten. Er kommt zum Schluss, dass «nur die von Kepler vorgenommene Zuordnung der Werte für die von der Erde aus sichtbaren Planeten auf Saturn im Aphel und Perihel eine gewisse Abweichung von einer zufälligen Verteilung zeigt.»
Warm erwähnt auch die Versuche, die Sphärenharmonie im keplerschen Sinn hörbar zu machen:
So hat man es nicht mit einer Musik im menschlichen Sinne zu tun, sondern mit einer Ansammlung von in unterschiedlicher Höhe und mit abgestufter Schnelligkeit vor sich hinquäkenden Heulbojen. Um einer solchen Vorstellung zu entgehen, hat Kepler sich ja in erster Linie auf die festen Werte eines Planeten im Perihel oder im Aphel gestützt. Ohne die Be-Stimmtheit der Töne aber sind reine Melodien oder erhabene Gesänge nicht möglich.[2]
Die rechnerischen Einzelheiten sind – wie bei Wahrscheinlichkeitsberechnungen üblich – komplex. Wer sich dafür interessiert, der sei auf Warms Buch verwiesen. Warm schliesst daraus, dass «die Vorstellungen Keplers von den planetarischen Harmonien der Winkelgeschwindigkeiten zu Grabe getragen werden müssen». Er bietet allerdings einen Ersatz auf Basis der Planetengeschwindigkeiten. Abhängig von der kleinen Halbachse der Planetenbahn-Ellipse findet er auf dem Weg der Planeten drei Punkte mit einer auffallenden Eigenschaft: Sie definieren Intervallverhältnissen entsprechende Zahlenverhältnisse, die weit von aller Zufälligkeit entfernt sind. Die ausgeklügelten und klugen statistisch-astronomischen Überlegungen schmückt er allerdings mit beinahe rührend anmutenden Fantasien in antiker Weltsichts-Manier aus:
Dass sich die Geschwindigkeiten als physikalisch fassbare Träger der Harmonie der Sphären herausgestellt haben, ist im Grunde nur zu logisch. Ein Musikinstrument, wenn man sich das Gefüge der Wandelsterne einmal als ein solches vorstellt, müsst in irgendeiner Weise Schwingungen hervorrufen, die zueinander in resonanten Verhältnissen stehen. Dies kann eigentlich nur über die Umläufe oder aber unterschiedlich schnelle Bewegungen gedacht werden. Die Umlaufzeiten sind aber, wie inzwischen herausgefunden wurde, aus Gründen der Stabilität des Planetensystems denkbar ungeeignet, denn hier könnten Resonanzen kleiner ganzer Zahlen verheerende Folgen haben. Im übrigen weiss man heutzutage auch, dass der Raum zwischen den Planeten kein absolutes Vakuum darstellt, sondern vom Sonnenwind erfüllt wird. Auch wenn das ein wenig spekulativ ist, man kann sich das durchaus als eine Ausbreitung der so erzeugten Schwingungen vorstellen. Die uralte Idee der Menschheit eines von Musik erfüllten Kosmos und auch der Versuch Johannes Keplers, diese, und sei sie auch nur im Geiste vernehmbar, mit Hilfe der von ihm entdeckten Planetengesetze gewissermassen wissenschaftlich nachzuweisen, haben erstmals eine echte – ich will mich nicht vermessen, von einem Beweis zu sprechen – Bestätigung gefunden.[3]
Das Buch Hartmut Warms ist lesenswert, auch wenn man seinen metaphysischen und theologischen Spekulationen nicht folgen will. Denn Analogien oder Regelmässigkeiten in kosmischen Erscheinungen haben ihren eigenen Reiz. Die Beschäftigung mit der Logik einfacher Zahlenverhältnisse und geometrischer Symmetrien leistet heute jedoch nur Unwesentliches zum Verständnis musikalischer Fragen und lenkt von den entscheidenden Problemen ab. Fragen wie: Was bedeutet Musik? Welche Kräfte spielen in der Entwicklung einer harmonischen Sprache? Weshalb strukturiert sich die Zeitachse in ein komplexes Gewebe aus unterschiedlich gewichteten Impulsen? und viele ähnliche mehr liegen vollkommen ausserhalb der Reichweite einer Sphärenharmonie, Symmetrie- oder Resonanztheorie. Versucht man sie trotzdem in ein solches System zu bringen, ist dies, als möchte man die Ausdrucksvielfalt der Architektur bloss mit den Gesetzen der physikalischen Statik erklären.
Das System der «Sphärenharmonie» mit seiner statischen Perspektive ist für den modernen Menschen zur unfruchtbaren, toten Metapher geworden. Den Verfechtern der Idee ist es nicht gelungen, die erwähnte Rahmentheorie vorzulegen, welche eine Koppelung musikalischer Phänomene mit kosmologischen Gegebenheiten plausibel und vorhersehar machen würde. Im Gegenteil: Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Vorstellung immer abwegiger und unsinniger – und schliesslich haben sich auch die Konstruktionen von Intervallverhältnissen mit kosmologischen Tatsachen in Beliebigkeit aufgelöst.
Dies bedeutet nicht, dass die Idee an und für sich immer einen Irrweg darstellte. Das Gegenteil ist der Fall. In der Geistesgeschichte der Menschheit hat sie von Europa bis hin nach China geholfen, eine der bedeutendsten methodologischen Fragen zu bewältigen, diejenige nämlich, von welcher Inspiration man sich leiten lassen soll auf der Suche nach den grundlegenden Naturgesetzen. Die Idee der Sphärenharmonie ist dabei Ausdruck eines uralten Paradigmas in der Kosmologie – das bis heute im fundamentalen Denken eine Rolle spielt –, der Bau des musikalischen Grundmaterials trägt allerdings auch schon den Keim seiner Überwindung in sich: Der Glaube, dass die Gesetze, welche die Natur im Urgrund definieren, einfach sind und das Universum sich in klaren und eleganten Symmetrien ausdrückt, führt früher oder später immer in eine Sackgasse. Die bereits in der mathematischen Struktur angelegten Kompromisse, die gemacht werden müssen, wenn man eine «schöne» Tonleiter konstruieren will, zeigen, dass die fundamentalen Naturgesetze eben nicht die elegante Einfachheit aufweisen, die der antike griechische und der mittelalterliche christliche Mensch in der Natur gerne gesehen hätte.
Einfachheit bedeutet, wie die Besprechung der Informationstheorie im nächsten Kapitel zeigen wird, auch Ausdrucksarmut. Das heisst Eleganz und Tiefe schliessen sich in gewisser Hinsicht aus. Und gerade weil im musikalischen Baumaterial mathematische Genauigkeit angelegt ist, half es, die geistigen Vorurteile zu überwinden. In dieser Hinsicht ist der heute zum Teil belächelte Kepler vermutlich der radikalere, wissenschaftlichere und modernere Mensch gewesen als etwa Isaac Newton, der sich zeitlebens unkritisch astrologischen und esoterischen Ideen hingegeben hat. Kepler sträubte sich mit ganzem Herzen gegen das Aufgeben der Vorstellung, dass die Planeten in konzentrischen Kreisen im Himmel kreisen, liess sich dann aber von seinem Material davon überzeugen; er wehrte sich gegen die Einsicht, dass die Sphärenharmonie, wie sie Pythagoras noch vorgeschwebt haben mochte, nicht haltbar ist und entdeckte dabei das dritte Planetengesetz. Er ist im besten Sinne das, was dem modernen Wissenschaftstheoretiker Karl Popper als Ideal vorschwebte: ein Suchender, dem ewige Wahrheiten suspekt sind, der seine Theorien deshalb den härtesten Prüfungen unterzieht und bereit ist, sie aufzugeben, wenn das empirische Material gegen sie spricht. Nur wenige haben im Lauf der Wissenschaftsgeschichte eine solche Grösse gezeigt. In der Regel halten Wissenschafter nämlich an einmal gefassten Meinungen fest, auch wenn sie im Grunde selber wissen, dass sei bereits überholt sind.
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[1] Hartmut Warm, Die Signatur der Sphären, Von der Ordnung im Sonnensystem, Keplerstern Verlag, Hamburg 2001
[2] a.a.O. Seite 84
[3] a.a.O. Seite 76