Die psychologischen Rahmenbedingungen

Die Beiträge zum Problem der Universalien in der Musik sind verstreut und häufig im Rahmen bestimmter Theorien oder Problemstellungen verfasst worden. Im Grunde genommen ist dies ein Widerspruch zu dem, was Universalien leisten sollten, nämlich eben gerade eine universale Basis für eine Theorie der Musik zu besorgen, die vor allem Theoretisieren festlegt, worüber man überhaupt spricht und allgemein akzeptierte Prinzipien offeriert. Sie sollte damit auch Instrumente in die Hand geben, um verschiedene Theorien der Musik zu vergleichen.

Man kann die Überlegungen zu möglichen Definitionen der Musik aber mindestens in der Form eines informellen Schichtenmodells skizzieren, dessen allgemeinste Annahme wäre vermutlich: «Musik hat etwas mit den Eigenschaften der akustischen Wahrnehmung zu tun» . Wie man sieht, bewegt man sich schon hier auf glattem Parkett, denn die naheliegende Formulierung «Musik ist die bewusste Gestaltung des akustischen Raumes» kann schon nicht mehr als Universal gesetzt werden. Es würde nämlich alle abstrakten, metaphysischen Spekulationen über Sphärenmusik und ähnliches und damit einen ungemein gewichtigen Teil der indischen, chinesischen, abendländischen und weiterer Musiktheorien ausschalten.

Je höher man in dem Schichtenmodell gelangt, umso mehr müssen gewisse Universalien-Postulate auf eine Rahmentheorie eingeschränkt werden. Am verbreitetsten ist sicherlich diejenige, die von Musik erst dann spricht, wenn von einzelnen Werken mit Metrum und tonaler Struktur die Rede ist.

Explizit Gedanken über Universalien in der Musik macht sich der britische Musikpsychologe John A. Sloboda. Er diskutiert Gruppierungsstrukturen, die auch von Lerdahl und Jackendoff als Universalien vorgeschlagen werden. Sloboda akzeptiert die Existenz einer Tonskala und eines ausgezeichneten Tones (z. B. Tonika), zumindest während der Dauer eines Vortrages, als Universal. Als einen Grund dafür sieht er das Vorhandensein von Instrumenten, die im Gegensatz zur Singstimme festgelegte Tonhöhen besitzen. Weiter schliesst sich Sloboda der gängigen Überzeugung an, dass die Oktave ein ausgezeichnetes Intervall ist und dass die meisten polyphonen Kulturen über Intervalle im Bereich reine Quart und reine Quint verfügen.

Zudem sieht er die ungleiche Aufteilung des Oktavraumes als eine übliche Praxis an. Genauer gesagt scheinen Tonsysteme zustandezukommen, indem aus einer gleichmässigen Unterteilung (zwölf Halbtöne oder wie in Indien 22 Tonschritte) eine ungleich verteilte Untermenge ausgewählt wird, die dann eine diatonische Tonleiter bildet. Die ungleiche Verteilung erlaubt es dem Hörer, sich im Tonraum besser zurechtzufinden als eine gleichförmige, in der alle Tonstufen gleiche Qualität haben. Zudem kann auf der Basis der ungleichen Verteilung ein System mit mehreren Tonarten konstruiert werden. Die diatonische Tonleiter erlaubt etwa die Konstruktion eines Quintenzirkels mit Modulationen. Die Ganztonleiter kennt keine derartigen Schichtungen. Auch die Zeitdimension wird laut Sloboda von allen Kulturen in ihrer Musik ähnlich differenziert (allerdings lässt er es offen, ob es sich dabei um eine notwendige Strukturierung handelt). Ein regelmässiger Puls wird dabei von Akzenten strukturiert.

Die Erörterung des Themas in Slobodas Überblickswerk «The Musical Mind: The Cognitive Psychology of Music»[1] macht einen erstaunlich unsystematischen und teilweise inkonsequenten Eindruck – Sloboda wechselt von der Diskussion von Universalien schnell zu stilistischen Fragen. Allerdings ist er dabei nicht allein. Eine Unterscheidung zwischen strukturellen, kognitiven, theorieabhängigen und theorieübergreifenden Universalien wird praktisch nirgendwo vollzogen. Die meisten Autoren beschränken sich auf eine bunte Sammlung an Einzelideen.

Dies ist auch der Fall für Leonard Meyer in seinem Artikel «A Universe of Universals»[2]. Allerdings erklärt der renommierte amerikanische Musikpsychologe gleich zu Beginn, dass es neben den schon erwähnten physikalischen und biopsychologischen Rahmenbedingungen im Grunde genommen keine musikalischen Universalien gebe.

Die biopsychologischen Universalien, die Meyer selber zum Diskurs beisteuert, fallen unter die locker zusammengestellten Kategorien Neurokognition, Syntax, statistische Parameter, Klassifikation, hierarchische Strukturen und Redundanz. In Bezug auf Klassifikation beschränkt er sich allerdings auf einige allgemeine Bemerkungen zur Bedeutung der Klassenbildung, wie sie etwa die Tonhöhenklassen darstellen, ohne jedoch explizit eine Rahmenbedingung zu formulieren. Vermutlich schwebt ihm etwas in der Art «alle Musik bedient sich der Strukturierung mittels Klassen von Elementen» vor, was allerdings zu vage ist, um in unseren Katalog aufgenommen werden zu können.

Auch in Sachen Hierarchien gibt Meyer nicht wirklich Rahmenbedingungen an. Vermutlich nicht ganz zu unrecht weist er jedoch darauf hin, dass seit Schenker zwei Dinge häufig unzulässig vermischt werden, nämlich Hierarchien in Strukturen und was die Romantiker als «Tiefgang» angesehen haben. So wird Schenkers Ursatz ab und zu als der tiefe Sinn eines Musikstückes missverstanden und etwa mit den «tiefgründigen» Archetypen der jungschen Psychologie verglichen. Auch Lerdahl und Jackendoff warnen in GTTM vor einem solchen Fehlschluss.

Die neurokognitiven Rahmenbedingungen Meyers lauten:

  • Das menschliche Gehirn kann bloss eine bestimmte Menge Information pro Zeiteinheit verarbeiten.
  • Das menschliche Gehirn hat eine spezifische Verarbeitungsgeschwindigkeit.
  • Im Grossen und Ganzen kann das menschliche Gehirn sieben plus/minus zwei Elemente auf einmal in Beziehung setzen

Aus letzterem erklärt sich die Länge von Motiven, Themen und so weiter und vor allem die Tatsache, dass musikalische Strukturen nicht dadurch vergrössert werden, dass Melodien länger werden, sondern dadurch, dass ihre Anzahl erhöht wird:

So wie ein Gebäude nicht deshalb grösser wird, weil seine Komponenten (Pfähle und Balken, Ziegel und Nägel) grösser werden, sondern weil deren Anzahl erhöht wird, und so wie Organismen nicht wachsen, indem die Zellen grösser werden, sondern indem ihre Anzahl zunimmt, wächst auch ein Musikstück nicht, weil seine Elemente grösser werden, sondern weil ihre Anzahl zunimmt. Obwohl also Bruckners Sinfoniesätze viel länger sind als diejenigen Mozarts, haben ihre Motive, Phrasen, Themen und so weiter etwa die gleiche Länge wie diejenigen der Mozartsinfonien.

Als Syntax bezeichnet Meyer die Strukturen, die aufgrund von Wahrscheinlichkeiten, dass ein Tonhöhenereignis, ein Rhythmus oder weiteres auf ein anderes folgen. Zu den entsprechenden Universalien gehören die Benutzung ungleich grosser Intervalle. Ebenso wird der zeitliche Ablauf von ungleich langen Ereignissen bevölkert. Die Rahmenbedingungen lassen sich etwa wie folgt formulieren:

  • Die Tonhöhen werden in diskrete, proportionale Elemente aufgeteilt (Tonleitern).
  • Die Zeitdauern werden ebenfalls in diskrete, proportionale Elemente aufgeteilt (Ganze, Halbe, Viertel und so weiter).
  • Alle andern Parameter haben bloss statistische Unterscheidungswerte.

Lerdahl und Jackendoff präsentieren ihre Hypothesen zu musikalischen Universalien als Katalog mit fünf Punkten.

  • Die musikalische Intuition wird von vier von GTTM postulierten Dimensionen strukturiert: Gruppierung, metrische Struktur, Zeitspannenreduktion und Prolongationsreduktion. Alle diese Dimensionen sind strikte hierarchisch organisiert.
  • Die Struktur eines Stückes wird in jeder Komponente von drei Typen von interagierenden Regeln bestimmt: solchen der Wohlgeformtheit, Präferenz- und Transformationsregeln.
  • Die Beziehungen zwischen den vier Gruppen gestalten sich folgendermassen:
    • Gruppierung und metrische Struktur sind prinzipiell unabhängig.
    • Die Zeitspannensegmentierung hängt im Kleinen vom Metrum ab, im Grossen von Gruppierungen, dazwischen spielt eine Kombination der beiden eine Rolle.
    • Zeitspannenreduktion ist abhängig von einer Kombination aus Tonhöhenstabilität und Zeitspannensegmentierung.
    • Prolongationsregionen und die relative Bedeutung von Prolongationen werden weitgehend von der Bedeutung der Zeitspannen und der Stabilität der Tonhöhenverbindungen bestimmt.
  • Um Entscheidungen über die hierarchischen Positionen machen zu können, müssen Kriterien für die relative Stabilität eines Tonhöhenereignisses vorhanden sein, also ein tonales Zentrum und eine Möglichkeit, die Distanz eines Tonhöhenereignisses zu diesem angeben zu können.
  • Strukturelle Anfänge und Abschlüsse einer Gruppe bilden wichtige Artikulationen einer Stückstruktur. Abschlüsse werden überdies von konventionellen Floskeln («Kadenzen») erzeugt.

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[1] John A. Sloboda, The Musical Mind – The Cognitive Psychology of Music, Oxford University Press, Oxford 1985

[2] Leonard B. Meyer, «A Universe of Universals», Journal of Musicology 16, Nr.1 (Winter 1998); der Artikel findet sich auch in Leonard B. Meyer, The Spheres of Music, University of Chicago Press, Chicago 2000